Der letzte Verhandlungstag des alten Jahres im Verfahren gegen Latife endete mit einer kleinen Überraschung. Überraschend war dabei sicher nicht, dass der 5. Senat am OLG Düsseldorf auch am 51. Tag des Prozesses erneut alle an den vorherigen Tagen gestellten Beweisanträge der Verteidigung zurückwies – dass der Vorsitzende Richter Schreiber nach Ende der Verhandlung für den am 11. Januar folgenden 52. Prozesstag jedoch eine Zeugenbefragung ankündigte, war vorab nicht erwartet worden.
Überraschende Zeugenladung zum Ende der Beweisaufnahme
Mittwoch nächster Woche erleben wir so ab 14:00 Uhr im Nebengebäude am Kapellweg den Auftritt einer leibhaftigen Bundesanwältin aus Karlsruhe. Aussagen soll sie zu einer Zeugenvernehmung niederländischer Polizeibeamter im Stuttgarter DHKP-C-Prozess, bei der es um den Umgang mit Datensätzen gegangen war, die den holländischen Behörden bei einer Durchsuchung des Pressebüros Özgürlük in Rotterdam im Jahr 2004 in die Hände gefallen sein sollen und die dann als Kopien von Kopien in Auszügen auch zum BKA gelangten. Von diesem wurden sie zu jener «Strukturakte» verarbeitet, die bis heute den Verfahren gegen vermeintliche Mitglieder der DHKP-C zugrundeliegt. Auch die zentrale Behauptung der Düsseldorfer Generalstaatsanwaltschaft, dass der Verein «Anatolische Föderation», deren Vorsitzende Latife war, nichts anderes als eine Tarnorganisation der marxistisch-leninistischen DHKP-C ist, wird ausschließlich mittels jener «Strukturakte» und Aussagen eines zweifelhaften BND-Doppelagenten unterfüttert.
Obwohl die Anträge der Verteidigung auf Ladung niederländischer Zeugen zum forensischen Umgang mit den damals sichergestellten Daten durch den Senat bereits abgewiesen wurden, sehen sich die Richter offenbar genötigt, über den Umweg einer Befragung der Bundesanwältin nochmals auf den Vorgang einzugehen. Daraus lässt sich zweierlei schließen: Das Gericht hat außer der ominösen «Strukturakte» und außer der Behauptung, als Vorsitzende der «Anatolischen Föderation» sei Latife nunmal automatisch Teil der DHKP-C gewesen, nichts gegen unsere Freundin in der Hand. Zum Zweiten zeigt die überraschende Zeugenladung, dass sich das Gericht um die «Strukturakte» (und damit um die Grundlage fast aller Verurteilungen in den DHKP-C-Prozessen), Sorgen macht.
Liegen allen DHKP-C-Verfahren unvertwertbare Beweise zugrunde?
Dazu dürften auch die intensiven Bemühungen der Anwälte beigetragen haben, auch die den 2004 in ganz Europa durchgeführten Polizeirazzien zugrundeliegenden Informationen anzuzweifeln. Es bestehen gute Gründe zur der Annahme, dass der Ausgangspunkt italienischer Abhörmaßnahmen, die letztlich zur Durchsuchung des Pressebüros in Rotterdam führten, in der Türkei erfolterte Informationen waren. Wäre das so, dürften aus diesen «Erkenntnissen» erlangte Beweismittel wohl nicht verwendet werden. Die Begründung, mit der Richter Schreiber am letzten Verhandlungstag Zweifel zu zerstreuen suchte, war jedenfalls alles andere als überzeugend.
Folgt man den Ausführungen des Vorsitzenden Richters, kann es sich bei der entscheidenden Information nicht um eine durch Folter erlangte Erkenntnis gehandelt haben, da sich eine «vielstellige ausländische Telefonnummer» nicht erfoltern lässt weil sie zu lang ist. Damit reagierten die RichterInnen auf den durch die Verteidigung gemachten Fund einer Passage eines damaligen italienischen Urteils, in dem der italienische Richter wörtlich von „glücklichen Zufällen“ geredet hatte, die den italienischen Behörden die fragliche Telefonnummer in die Hände gespielt hätte. Diese Urteilspassage hatte Schreiber ausgelassen, als er aus demselben Urteil zuvor zitiert hatte, als es um die Frage ging, auf welche Erkenntnisse die Durchsuchung des Pressebüros speziell basierte.
Dahinter verbirgt sich die ziemlich grundsätzliche Rechtsfrage der „Fernwirkung“ eines Verwertungsverbotes, nach dem Beweise, die auf erfolterte Informationen zurückgehen, in Gerichtsverfahren nicht verwendet werden dürfen. In diesem Fall bedeutet das, dass die Durchsuchung in Rotterdam zwar nicht direkt auf Informationen aus der Türkei zurückging, weil die Info aus abgehörten Telefonaten in Italien stammte. Doch: Woher hatte die italienische Polizei die abgehörte Telefonnummer? Es ist fraglich, ob diese wichtige Frage im weiteren Prozessverlauf noch geklärt werden kann. Eine Antwort hätte jedenfalls unter Umständen gravierende Folgen für alle DHKP-C-Anklagen und -Urteile.
Unser Fahrplan 2017
Der bisher bekannte Fahrplan für den Beginn des Jahres im Verfahren gegen Latife sieht so aus: Fortsetzung des Prozesses am 52. Tag mit der Befragung einer Bundesanwältin ab 14:00 Uhr im Gebäude Kapellweg (Saal 2). Der 53. Tag ist dann am 19.1. ab 10:00 Uhr wieder im Keller des Hauptgebäudes Cecilienallee angesetzt. Je nach Verlauf des nächsten Verhandlungstages ist für den 19. Januar auch bereits mit dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft zu rechnen. Weitere Termine – für den Schlussvortrag der Verteidigung und für das Urteil – werden eventuell schon nächste Woche festgelegt. Danach richten sich auch unsere Aktivitäten zum Ende des Verfahrens: Geplant ist neben einer Kundgebung in Düsseldorf noch eine größere Veranstaltung, ebenfalls in Düsseldorf, zum Themenkomplex deutsch-türkischer Kooperation der Sicherheitsdienste; Ort und Datum werden wir jeweils möglichst schnell mitteilen.
Der Termin für eine Solidaritätsveranstaltung in Wuppertal, mit der wir nochmals zum Besuch der letzten Verhandlungstage motivieren wollen, steht dagegen bereits fest: Am Donnerstag, den 12. Januar informieren wir aus unserer Sicht über anderthalb Jahre «Terrorverfahren» gegen unsere Freundin und über die Konsequenzen einer drohenden Ausweitung der Anwendbarkeit der Paragraphen 129a und 129b für jeden politisch aktiven Menschen. Der info- und Diskussionsabend beginnt um 20:00 Uhr im Café ADA in der Wiesenstraße in Wuppertal-Elberfeld.