Donnerstag, 25.6.2015:
Zweiter Tag im Prozess gegen Latife
Nachdem der Prozessauftakt mit einer (Teil-) Verlesung der Anklageschrift im Zeichen der Generalstaatsanwaltschaft gestanden hatte, war der letzte Donnerstag ein Tag der Verteidigung und Latifes. Wie zu erwarten, fehlte die Presse, die in der Vorwoche den Beginn des Verfahrens noch mit einer manipulativen Berichterstattung begleitet hatte. Die nicht sehr zahlreich erschienene «Öffentlichkeit» erlebte dafür zunächst eine Ausweitung der «Sicherheitsmaßnahmen»; jetzt dürfen gar keine Taschen oder Rucksäcke und auch kein Trinkwasser mehr mit in das Gericht genommen werden.
Allgemeine und persönliche Unterdrückungsgeschichte
Angesichts der Dürftigkeit der in der Vorwoche vorgetragenen Anklage war es nicht überraschend, dass der Tag mit einem gemeinsamen Antrag auf Einstellung des Verfahrens durch RA Meister und Latife A. begann. Begründet wurde dies vom Verteidiger mit formalen Defiziten der Anklageschrift. Demnach hätte die Staatsanwaltschaft bei der Schilderung der DHKP-C-Aktionen, die immerhin ein gutes Drittel der gesamten Anklage ausmachen, zwingend auch die Vorgeschichte des militanten Kampfes in der Türkei und den mörderischen Charakter des türkischen Staates berücksichtigen müssen: Die Inhaftierungen, die Folter und das Sterben vieler Menschen bei Gefechten und in den Knästen. Alleine nach dem Militärputsch wurden zehntausende Revolutionäre festgenommen, gefoltert und auch getötet. RA Meister verwies in seiner Begründung dabei auch auf PKK-Verfahren, in denen die Rolle der Türkei und die Legitimität des kurdischen Kampfes auch nicht ausgeblendet werden dürfe, was von deutschen Gerichten zum Teil mittlerweile auch anerkannt würde.
Zuvor hatte auch Latife in ihrer Begründung zur beantragten Einstellung des Verfahrens auf die mörderische Unterdrückungsgeschichte der Türkei Bezug genommen. Sie tat dies allerdings mit einem historischen Rückgriff auf ihre eigene Geschichte als Kind, das in einer alevitsch-kurdischen Familie aus Dersim aufwuchs. Hier fand 1938 ein Genozid an an alevitischen Kurd*innen statt, dem bis zu 100.000 Menschen zum Opfer fielen, 50.000 Menschen wurden vertrieben und verloren ihre Heimat. Latife schilderte, dass erst kürzlich ein Massengrab in ihrem Heimatdorf entdeckt wurde, in dem sich die Überreste von 24 Menschen fanden. Unter ihnen waren auch Latifes Urgoßvater und ihre Großtante.
Als junge Frau kam Latife nach dem Militärputsch 1980 nach Deutschland und war von dieser Geschichte ihrer Heimat und ihrer Familie ebenso geprägt wie von miterlebten Ereignissen aus der Zeit des Putsches: Erneut wurden einige von Latifes Verwandten eingesperrt und gefoltert. Auch deshalb verliess sie die Türkei als überzeugte Antifaschistin und als linke Akteurin, die aufgrund der eigenen Geschichte ein Hauptbetätigungsfeld in der Arbeit für politische Flüchtlinge und Gefangene sah. Neben zahlreichen Kontakten zu linken und antifaschistischen Gruppen in Deutschland ergab sich so auch ein intensiver Kontakt zu «Tayad», eine international anerkannte Menschenrechtsorganisation in der Türkei, die von Angehörigen und Freund*innen inhaftierter politischer Gefangener nach dem Militärputsch gegründet wurde.
Niemals Mitglied einer Partei
Latife, die neben ihrer Arbeit in ihrem Geschäft auch noch als Betreuerin schwer Erkrankter tätig ist, betonte, dass ihre politische, humanistische und soziale Arbeit bis heute durch viele Kontakte zu Menschen geprägt ist, die sie durch die Arbeit für «Tayad» bekam. In diesem Zusammenhang legte Latife großen Wert auf die Feststellung, dass sie niemals Mitglied einer politischen Partei war, auch nicht der DHKP-C. Ihr Ziel sei vielmehr, mit der Arbeit in der «Anatolischen Föderation» für demokratische Rechte von Migrant*innen aus der Türkei einzutreten und sich dabei vor allem um Probleme der inzwischen gealterten ersten Generation von zugezogenen Menschen zu kümmern.
Für Latife und die «Anatolische Föderation» sei es aber ebenso wichtig, den jüngeren Menschen «neue Perspektiven auf ihre eigene Kultur» zu vermitteln. Dabei verwies Latife auf eine traditionell «stärkere soziale und moralische Verbundenheit» türkischstämmiger Migrant*innen, die im Gegensatz zu einer individualistische Grundeinstellung und den wirtschaftlichen und politischen Problemen der neuen Heimat stehe – ein Gegensatz, der oft zum Verlust eines «kollektivistischen Lebenstils», von «Identität» und «Lebensfreude» führe. Daraus resultuerende Konflikte würden in der Folge häufig zu Erniedrigungen und «kultureller Diskriminierung» von Migrant*innen führen, so Latife. Die «Anatolische Föderation» will die Menschen in dieser Situation unterstützen, betonte die ehemalige Vorsitzende des Vereins.
Ein zentraler Punkt bei dieser Unterstützung ist für Latife das Eintreten für das oft nur sehr eingeschränkt vorhandene Recht auf politische Betätigung und Mitsprache der Migrant*innen. Es einzufordern und ständig zu verteidigen sei die Basis der Arbeit der «Anatolischen Föderation». Auch angesichts vieler rassistischer Übergriffe und Anschläge auf Migrant*innen in Deutschland sei eine stärkere politische Partizipation hier lebender Migrant*innen notwendig und selbstverständlich, was zuletzt zu einem besonderen antirassistischen Engagement der «Anatolischen Föderation» nach der Selbstenttarnung des «NSU» geführt habe und zur Forderung, die Zusammenarbeit des deutschen Staates in Form von Polizei und Verfassungsschutz mit dem «NSU» aufzudecken.
Recht auf Selbstorganisation
In der Folge ging Latife auf den demokratischen Charakter der «Anatolischen Föderation» ein, der von der Staatsanwaltschaft bestritten wird. So sei die Gründung nach einer Umfrage unter türkischstämmigen Migrant*innen in Europa erfolgt, die von Kommissionen verschiedner lokaler Vereine aus Deutschland organisiert worden war. Das Ziel sei gewesen, Vorstellungen der Migrant*innen zu einem europäischen Organisationsmodell in Erfahrung zu bringen. Sie selbst sei 2009 in einem demokratischen Verfahren zur Vorsitzenden der «Anatolischen Föderation» vorgeschlagen und schließlich gewählt worden. Vom Verein wurden Demonstrationen gegen Rassismus und Faschismus in jeglicher Form, Infostände und Veranstaltungen organisiert, die sämtlich rechtmäßig angemeldet waren. Sie habe als Vorsitzende zudem vielfältige Kontakte zu Menschen eines breiten politischen Spektrums in Wuppertal, in NRW und in ganz Deutschland geknüpft.
Latife schloss ihren Vortrag mit der Feststellung, dass viele Migrant*innen mit der Überzeugung nach Deutschland kommen, dass es sich dabei um ein demokratisches Land handele. Sie brächten Erfahrungenen von Verfolgung und Folter mit. Auch ihr sei es einst so ergangen. Doch die Hoffnung auf ein friedliches Leben in einem demokratischen Land werde jedoch oft enttäuscht, weil eine echte Integration aufgrund familiärer und politischer Probleme schwierig sei. Daher müssten Migrant*innen sich selbst organisieren, was ein Grundrecht darstelle, von dem die «Anatolische Föderation» Gebrauch gemacht habe. Das auf Behauptungen und Mutmaßungen basierende Streuen des Verdachts, sie stelle als Vorsitzende der «Anatolischen Föderation» eine «Gefahr für die Bevölkerung» dar, sei deshalb ein Verstoß gegen das deutsche Grundgesetz.
Die dafür herangezogenen Paragraphen 129a und b bezeichnete Latife in ihrer Erklärung als Gesinnungsstrafrecht, mit dem antifaschistische und politisch aktive Menschen nach Belieben verhaftet, eingesperrt und isoliert werden. Sie, die seit Jahrzehnten öffentlich und offen politisch gearbeitet habe, zu verhaften und ihre Bewegungs- und politische Betätigungsfreiheit jahrelang einzuschränken, sei daher nicht nur ungerecht und unmenschlisch, sondern auch rechtlich unzulässig, weshalb sie die Einstellung des Verfahrens fordere.
Kleiner Lichtblick
Über den Antrag zur Verfahrenseinstellung wird das Gericht noch entscheiden, zunächst erhält die Staatsanwaltschaft Gelegenheit zur Stellungnahme. Mit einem kleinen Lichtblick für Latife ging der zweite Tag des Verfahren dann schließlich zuende: Die Auflagen, die ihr seit der Haftverschonung im Sommer 2013 das Leben schwer machten, wurden zumindest teilweise durch das Gericht gelockert. Zwar darf sie nach wie vor keinerlei Kontakt zu ihren Freund*innen aus der «Anatolischen Föderation» unterhalten, doch wurde ihr ein allgemeines politisches Betätigungsrecht nun explizit eingeräumt. Auch die Auflage, die Stadt Wuppertal nicht ohne einen Antrag zu verlassen wurde gekippt und die Meldeauflagen zudem gelockert.