Mehr als drei Jahre Knast?

Und dann ging alles ganz schnell: Am 54. Prozesstag im Verfahren gegen Latife – der nur ein halber war, weil er erst mittags begann – wurden eigentlich nur eine Gegenvorstellung der Verteidigung und weitere ablehnende Beschlüsse des 5. Senates erwartet. Doch dann forderte der Vorsitzende Richter Schreiber die Generalstaatsanwältin überraschend zu ihrem Schlussvortrag auf. Nach über 50 Prozesstagen, an denen diese sich so gut wie nie zu Wort gemeldet hatte, ging er zu Recht von einem kurzen Plädoyer aus. Es dauerte am Ende auch nur zwanzig Minuten.

Zwanzig Minuten, in denen die Staatsanwältin im Wesentlichen Teile der Anklageschrift wiederholte und die Behauptung aufstellte, das sei während des Prozesses alles ausführlich erwiesen worden: Die Tatsache, dass die DHKP-C Anschläge verübt habe, dass Latife Funktionärin der Organisation sei und dass sie damit den «revolutionären Umsturz» des politischen Systems in der Türkei angestrebt habe. Die «erwiesenen» Taten Latifes hätten einzig und allein diesem Zweck gedient: Die Teilnahme an Demonstrationen, speziell auch der Gezi-Solidaritäts-Demos 2013, die «Schlüsselgewalt» für die Räume der «Anatolischen Föderation», die Mit-Organisation politischer Veranstaltungen, das Bilden von Fahrgemeinschaften zu angemeldeten Mahnwachen, das Beschaffen und Verteilen von Obst, Getränken und Backwaren bei legalen Demonstrationen und Konzerten, das Teilnehmen an einem Seelenamt für einen bei einem Anschlag ums Leben Gekommenen, das Gedenken an die beim Gefängnismassaker im Jahr 2000 Ermordeten, die Solidaritätsarbeit für in §129b-Verfahren angeklagte Menschen und nicht zuletzt der Erwerb von «hochdosierten» Vitamin B12-Präparaten. Belastend waren aus Sicht der Staatsanwältin auch die bei der Durchsuchung von Latifes Wohnung sichergestellten frei erwerbbaren Bücher und DVDs und das «soziale Umfeld», dass vielfache Bezüge zu linken militanten Strukturen aufweise.

Latife habe sich mit all dem eines «Verbrechens» schuldig gemacht, für das das Gesetz eine Haftstrafe von bis zu zehn Jahren vorsieht. Doch die Staatsanwaltschaft zeigte sich «gnädig». Weil das Ganze nun schon seit der Verhaftung im Sommer 2013 andauere und weil Latife «teilgeständig» sei – Latife hatte in einer Erklärung teilweise die Teilnahme an einzelnen angemeldeten Demos und legalen Veranstaltungen «eingestanden» – beantragte die Staatsanwaltschaft «lediglich» drei Jahre und drei Monate Haft. Immerhin habe Latife die «Taten» über einen außerordentlich langen Zeitraum begangen – sie war vier Jahre lang Vorsitzende der «Anatolischen Föderation». In dieser Rolle habe sie der DHKP-C als «Aushängeschild» gedient und es müsse klar sein, dass die Anschläge der DHKP-C überhaupt erst durch die «Taten» der «Rückfront» möglich seien. Zusammengefasst: Ohne Gebäck und Obst bei «Grup Yourum»-Konzerten in Oberhausen kein Terror in der Türkei.

Es war schwer, den Zusammenhang zwischen dem von der Staatsanwaltschaft aufgebauten Phantasmagoria und dem im Plädoyer zum Ausdruck gekommenen Verfolgungs- und Bestrafungswillen zu realisieren. Fest steht, dass es offensichtlich seitens der Staatsanwaltschaft das Bemühen gibt, eine Haftdauer über jene zwei Jahre hinaus zu treiben, die es dem Senat ermöglichen würde, die Strafe zur Bewährung auszusetzen. Abzuwarten bleibt, wie der Senat die Teile des Plädoyers werten wird, die während des Verfahrens zum Teil ausdrücklich kein Thema gewesen waren. Als die Verteidigung das «soziale Umfeld» dadurch auszuleuchten gedachte, indem sie Latifes Beteiligung an hiesigen politischen Aktivitäten und in hiesigen politischen Zusammenhängen zum Thema machen wollte, wurde durch den Senat beispielsweise  beschieden, der Themenkomplex «Gezi-Solidarität» sei «nicht von Interesse». Nun taucht gerade die damalige Arbeit unserer Freundin als «Tat» wieder auf, ohne dass jemals darüber gesprochen worden wäre.

Die überraschende und heftige Entwicklung am vergangenen Prozesstag bedeutet für uns, nochmal intensiv für die bevorstehenden letzten zwei Verhandlungstage zu mobilisieren: Lasst uns Latife mit vielen Freunden und Freundinnen am 9. Februar zum Plädoyer der Verteidigung begleiten! Nehmt euch auch für die Folgewoche frei – am Donnerstag, den 16.2. wird das Urteil erwartet. Für diesen Tag planen wir u.a. eine Kundgebung vor dem OLG-Gebäude. Unsere Solidarität gegen ihre Repression!

Anträge der Verteidigung

Mit mehreren Beweisanträgen der Verteidigung ist das Verfahren wegen «Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung» gegen Latife am 42. Verhandlungstag vor dem Düsseldorfer OLG auf die Zielgerade eingebogen.

Die Anträge der Verteidigung zielten gleich in mehrere Richtungen: Zum einen soll nach wie vor der rassistisch-autoritäre Charakter des türkischen Staates und seiner Behörden und die darin begründete Nichtverwertbarkeit von Beweismitteln in den DHKP-C-Prozessen dargelegt werden, zum anderen wird mit einigen Anträgen spezifisch auf einige der in der Anklage Latife zur Last gelegten Punkte und auf ihre Arbeit als 2009 gewählte Vorsitzende der Anatolischen Föderation eingegangen.

So sollen zu ladenden ZeugInnen Auskunft darüber geben, dass der Latife vorgeworfene Erwerb von legalen Vitamin B1-Präparaten für 50 Euro mitnichten der Unterstützung hungerstreikender politischer Gefangener diente, sondern aus Gefälligkeit für eine ihr bekannte kranke Person geschehen ist. Ebenso soll ein Zeuge zum Vorwurf der Generalstaatsanwaltschaft aussagen, Latife habe vorgehabt, eine Geldsumme in die Türkei zu überweisen und dafür «konspirative Wege» nutzen wollen, weil die letzthin nicht zustande gekommene Zahlung über den Dienst von «Western Union» erfolgen sollte. Die zu ladenden Person könne laut Verteidigung bestätigen, dass Latife zur Einzahlung der ungeheuren Summe von 300 Euro vielmehr rein privat als amtsgerichtlich bestellte Betreuerin beauftragt war. Weitere ZeugInnen sollen zudem zu den Aktivitäten und zur Entscheidungsfindung innerhalb der Anatolischen Föderation aussagen.

In weiteren Anträgen wurden die Ladung von Zeugen zur Tätigkeit des Vereins «Tayad» beantragt, der in der Türkei von Familienangehörigen politischer Gefangener gegründet wurde und sich dort für Inhaftierte einsetzt und die Einholung eines Gutachtens durch den an der «London School of Economics and Political Science» lehrenden bekannten Ethnologen Dr. David Graeber gefordert, der den rassistisch völkischen Charakter der türkischen Staates beurteilen soll. Rechtsanwalt Roland Meister beantragte darüberhinaus, insgesamt 34 Urteile der Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in den Prozess einzubringen, in denen die Türkei wegen Verstößen gegen Artikel der europäischen Menschenrechtskonvention im Zuge von DHKP-C-Verfahren verurteilt worden ist.

Schließlich wurde mit drei weiteren Beweisantägen die juristische Grundlage der in der BRD stattfindenden DHKP-C-Prozessen infragegestellt. So möchte Roland Meister jenen BND-Mitarbeiter laden lassen, gegen den seinerzeit im Zusammenhang mit der Causa Alaatin Ateş ein später eingestelltes Ermittlungsverfahren wegen «Unterstütung einer terroristischen Vereinigung» eingeleitet worden war. Er soll zu jenen Aspekten der Zusammenarbeit des deutschen Geheimdienstes mit dem zeitweiligen «Deutschland-Verantwortlichen» der DHKP-C Auskunft geben, zu denen dieser aufgrund seines Aussageverweigerungsrechts nichts zu sagen braucht. Auch der Antrag, zwei Artikel türkischer Zeitungen ins Verfahren einzubringen, zielt darauf ab, Erkenntnisse, die mithilfe türkischer Ermittler oder Zeugen gewonnen wurden, in Zweifel zu ziehen. So berichten die türkischen Zeitungen darüber, dass zwei der «sachverständigen Zeugen» der türkischen Behörden für die deutschen DHKP-C-Prozesse mittlerweile wegen «Verfälschung von Beweismitteln» in der Türkei inhaftiert sind.

Der ausführlich begründete Antrag auf Erstellung eines forensischen Gutachtens zur Verwertbarkeit der 31.000 Textdokumente umfassenden Datensammlung des BKA in der so genannten «Strukturakte» zur DHKP-C, die auf 2004 durch die niederländische Polizei beschlagnahmten Festplatten basiert, verdient besondere Beachtung – beschäftigt er sich doch mit dem eigentlichen Kern aller in Deutschland geführten Prozesse zu angeblichen Mitgliedschaften in der DHKP-C. Roland Meister führte auch unter Zuhilfenahme von Expertisen staatlicher europäischer Stellen einleuchtend aus, dass die seinerzeit sichergestellten Datenträger aus dem Rotterdamer Pressebüro Özgürlük mglw. unter Missachtung grundlegender forensischer Voraussetzungen verwertet und an das BKA weitergegeben worden sein könnten. Träfe dies zu, wäre fast allen ergangenen Urteilen gegen angebliche DHKP-C-Mitglieder die Grundlage entzogen.

Aufgrund der prinzipiellen Bedeutung werden wir uns diesem Beweisantrag und der Datensammlung der «Strukturakte» in der nächsten Zeit noch in einem eigenen Artikel zuwenden. Ob der Senat die Wichtigkeit dieses Punktes ebenso einschätzt, ist freilich fraglich – im bisherigen Prozessverlauf erweckte er nicht unbedingt den Eindruck, der Wahrheitsfindung zuliebe juristische Turbulenzen in Kauf zu nehmen; zuletzt war diese Konfliktscheu bei der mehr als dürftigen Zurückweisung des dritten Einstellungsantrages festzustellen. Es bleibt abzuwarten, inwieweit sich der Senat unter Richter Schreiber auf die Mühen der Verteidigung einlässt, dem Gesinnungsverfahren gegen Latife Erkentnisse abzugewinnen. Schließlich ist Richter Schreiber gleichzeitig auch Vorsitzender im Prozess gegen den Islamisten Sven Lau. Ein schnelles Ende des absurden Prozesses gegen Latife könnte ihm daher mehr am Herzen liegen als die eher mühselige Beschäftigung mit fragwürdigen Beweisen.

Das Verfahren wird am Freitag, den 7. Oktober um 10:00 Uhr im Hochsicherheitsgebäude am Düsseldorfer Kapellweg fortgesetzt. Erwartet werden dann Stellungnahmen der Generalstaatsanwaltschaft zu den gestern gestellten Anträgen der Verteidigung und weitere Beweisanträge der Anwälte. Ein solidarischer Besuch des Prozesses ist gerne gesehen, BesucherInnen müssen sich am Engang ausweisen und sollten ihre Telefone daheim lassen.