so_ko_wpt zum Urteil in Stuttgart

(Quelle: so_ko_wpt)

Repression in der Türkei und in Deutschland

Manchmal verbinden sich im Fokus befind­liche politische Themenfelder auf eine Weise, die kurz zuvor noch nicht erwartet werden konnte. Oft genug sind das Momente großer Anspannung. Uns ergeht es derzeit so: Die solida­rische Arbeit im Rahmen der Begleitung des §129-Prozesses gegen unsere Freundin Latife und unsere Kooperation mit kurdi­schen Partner*innen verbinden sich angesichts der neueren Entwicklungen in der Türkei auf drama­tische Weise.

Seit Ende letzter Woche rollt in der Türkei eine Verfolgungswelle gegen linke Revolutionär*innen und Kurd*innen, die in ihrer Härte und Breite an dunkelste Phasen türki­scher Repression in den achtziger und neunziger Jahren erinnert. Mitten in diese neuer­liche Phase der Unterdrückung in der Türkei platzte nun gestern die Meldung eines sehr brutalen Urteils in Stuttgart-Stammheim: Vier angeb­liche Unterstüzer*innen der türki­schen DHKP-C wurden zu langjäh­rigen Haftstrafen verur­teilt. Sie waren am selben Tag im Juni 2013 verhaftet worden wie unsere Genossin Latife. Die ihnen gemachten Vorwürfe waren lächerlich. Der deutsche Staat leistet damit erneut Beihilfe für ein autori­täres Regime. Ein Verhalten, das Tradition hat, momentan aber besonders augen­fällig ist.

Getötete Gefangene in der Türkei

Weit über tausend Menschen wurden inzwi­schen in der Türkei verhaftet – einige wenige so genannte Unterstützer*innen des «IS», vor allem aber türkische und kurdische Linke. Die Staatsmacht geht dabei mit großer Brutalität vor: So wurde Gunay Özarslan, mutmaß­liche Aktivistin der militanten DHKP-C, im Zuge ihrer versuchten Verhaftung von über zehn Kugeln der Antiterrorcops getroffen und regel­recht hinge­richtet. Anfängliche Behauptungen der Polizei, es hätte ein Feuergefecht gegeben, stellten sich im Nachhinein als Lüge heraus. Nach der Ermordung der seit Jahren bekannten Aktivistin der außer­par­la­men­ta­ri­schen Linken insze­nierte der türkische Staat beim Versuch, die Trauerzeremonie durch ihre Freund*innen und Angehörigen in einem alevi­ti­schen Gemeindezentrum zu verhindern, eine Art Bürgerkrieg auf den Straßen des Istanbuler Viertels Gazi Mahallesi, der mehrere Tage anhielt und viele Verletzte und am Ende auch das Leben eines Polizisten einforderte.

Die DHKP-C, wegen einiger recht fragwür­diger militanter Aktionen auch bei vielen Linken oft in der Kritik, verfügt, ebenso wie die kurdische PKK, in Gazi Mahallesi und in anderen Vierteln türki­scher Städte über eine in Deutschland viele erstau­nende Massenbasis: An der nach vier Tagen schließlich durch­ge­setzten Beerdigung Özarslans nahmen trotz der Bedrohung durch die Polizei mehrere tausend Menschen teil. Begründet ist diese Massenbasis vor allem im Widerstand militanter Organisationen in der langen und blutigen Geschichte des autori­tären türki­schen Staates, die nicht nur bis zu den Zeiten des Militärputsches 1980 zurück reicht. Linke Revolutionäre und die kurdische Bewegung haben in den letzten Jahrzehnten viele tausend Todesopfer zu beklagen – manche, wie die während des so genannten «Todesfastens» der DHKP-C Verstorbene, waren durchaus selber zu verant­worten, die aller­meisten jedoch kamen durch Folter oder Tötung durch die türkische Polizei oder das türkische Militär ums Leben.

So beispiels­weise beim Sturm der Gefängnisse im Dezember 2000, der dem zuvor erwähnten «Todesfasten» vorausging. Ein Hungerstreik von 1.000 politi­schen Gefangenen gegen die Einführung der «F-Typ»-Isolationshaft sollte mit Gewalt nieder­ge­schlagen werden – mindestens 30 Gefangene starben bei dieser Aktion. Jene «F-Typ»-Isolationshaft war nach bundes­deut­schen, in Stammheim und anderwo erprobten Isolationskonzepten entworfen worden und als es darum ging, die oft wider­stän­digen Gefängnistrakte mit politi­schen Gefangenen in der Türkei zu zerschlagen, stand der deutsche Staat den Sicherheitsbehörden mit Rat und Tat zur Seite. (Einen ganz guten Einblick in das Wesen der türki­schen Iso-Haft gibt der von Grup Yorum produ­zierte Spielfim «Typ F»). Die deutsche Kollaboration mit dem türki­schen Staat hat seit den Tagen von «Aghet», dem Genozid an den Armenier*innen, eine lange Tradition. (Darüber sprachen wir u.a. auch bei unserer Tagung «Repression in der Türkei» mit Vertreter*innen verschie­dener türki­scher und kurdi­scher Gruppen im Spätsommer 2013)

Drastische Urteile in Deutschland

In diesem Zusammenhang müssen auch die §129-Verfahren gesehen werden, mit denen kurdische und türkische Aktivist*innen in Deutschland überzogen werden. in ihnen kommen völlig ungeniert «Erkenntnisse» türki­scher Sicherheitsbehörden zur Anwendung, die diese teilweise mittels Folter oder mit fragwür­digen «Deals» «gewonnen» haben. Nachgewiesen wird den Angeklagten in der Regel lediglich eine Sympathie für militante Organisationen in der Türkei – eine Sympathie, mit der sie, wie erwähnt, absolut nicht alleine stehen, und die als solche in der Bundesrepublik auch nicht strafbar ist. In einem dieser Verfahren, in denen mit dem Willkürparagraphen 129 normale politische Tätigkeiten verfolgt werden, kam es gestern – ausge­rechnet auf dem Höhepunkt der Repressionswelle in der Türkei – zu drasti­schen Verurteilungen von vier nach §129 Angklagten in Stuttgart.

Die Angeklagten Muzaffer Dogan, Yusuf Tas, Sonnur Demiray und Özgür Aslan wurden zu Haftstrafen zwischen viereinhalb und sechs Jahren verur­teilt. Der Hauptvorwurf: Sie hätten Eintrittskarten für ein Konzert der revolu­tio­nären Musikgruppe «Grup Yorum» verkauft, das zur Zeit der Gezi-Proteste in der Türkei beinahe 15.000 Zuhörer*innen in die Oberhausener «Arena» lockte. Wie so oft zuvor, waren für die Verurteilung Aussagen maßgeblich, die fragwürdige Zeugen gegenüber dem türki­schen Geheimdienst über die angeb­liche Struktur der DHKP-C gemacht hatten. Wie auch im erst Mitte Juni begon­nenen Verfahren gegen unsere Gefährtin Latife vor dem OLG Düsseldorf wurde auch in Stuttgart dabei weniger über die tatsäch­liche Tätigkeit von Muzaffer Dogan, Yusuf Tas, Sonnur Demiray und Özgür Aslan verhandelt, als vielmehr der DHKP-C der Prozess gemacht. Eine Beteiligung an deren, in den Presseberichten zum Verfahren viel zitierten Aktionen wurde den vier Beschuldigten im Stuttgarter Verfahren gleichwohl nicht vorgeworfen.

Ein noch vor der Urteilsverkündung einge­reichter Antrag der Verteidigung auf Aussetzung des Prozesses, der explizit auf die laufende Repressionswelle in der Türkei verwies, wurde abgelehnt – wie auch alle vorhe­rigen Versuche, die politische Situation in der Türkei zu berück­sich­tigen. Die Koinzidenz der Ereignisse in der Türkei und in den Gerichtssälen macht dabei überdeutlich, dass sich die deutsche Justiz willfährig zum Handlanger eines autori­tären Regimes in Ankara macht, indem sie mutmaß­liche Sympathisant*innen militanter Gegner des türki­schen Staates anklagt, verur­teilt und einsperrt. Es bleibt zu hoffen, dass die in Stuttgart von der Verteidigung angekün­digte Revision zustande kommt, und der vor dem OLG Düsseldorf laufende Prozess weniger willfährig gegenüber dem türki­schen Staat verlaufen wird. Die letzten Berichte aus dem 129er-Verfahren gegen Latife, die von ihren «Freunden und Freundinnen» auf der Website zum Prozess veröf­fent­licht wurden, stimmen aber leider skeptisch.