An den Verhandlungstagen 38 und 39 gegen Latife haben ihre Rechtsanwälte, Roland Meister und Yener Sözen am 28. Juli, bzw. 3. August vor dem OLG Düsseldorf erneut die Einstellung des §129b–Verfahrens beantragt. Ersatzweise forderten sie seine Aussetzung, bis eine erneute Überprüfung der dem Prozess zugrundeliegenden «ministeriellen Verfolgungsermächtigung» durch Justizminister Heiko Maas (SPD) erfolgt ist. Angesichts der aktuellen Entwicklungen in der Türkei sehen die beiden Verteidiger für die im Jahr 2011 erteilte Ermächtigung «zur strafrechtlichen Verfolgung bereits begangener oder künftiger Taten vom Mitgliedern der DHKP/C» endgültig keine Grundlage mehr.
Laut Antrag der Verteidigung besteht ein Verfahrenshindernis, weil die ministerielle Ermächtigung willkürlich erteilt wurde. Außerdem begründet ihrer Ansicht nach die Unterstützung der Türkei von Terrormilizen wie «Al Nusra» oder dem so genannten «IS» ein völkerrechtliches Verfahrenshindernis. (Siehe hierzu auch die nach Antragsstellung durch die ARD bekanntgemachte Einschätzung der Bundesregierung.)
Wenn sich der 5. Senat unter dem Vorsitzenden Richter Schreiber wieder nicht zu einer eigenen Einstellungsentscheidung in der Lage sehen sollte (so wie bei der letzten Ablehnung eines Einstellungsantrags Ende Januar), weil er sich an außenpolitische Vorgaben durch die Verfolgungsermächtigung gebunden fühlt, zeigten sich die beiden Anwälte davon überzeugt, dass das hilfsweise beantragte Ersuchen um Überprüfung der Verfolgungsermächtigung durch Heiko Maas zu ihrer Rücknahme führen wird. Denn spätestens jetzt sollte auch die Bundesregierung erkannt haben, dass die Türkei kein «taugliches Schutzgut nach §129b StGB» darstellt.
Komplexe außen-, menschen- und völkerrechtliche Fragen
Sie führten aus, dass angesichts der ursprünglichen gesetzlichen Intention eine Strafverfolgung auszuschließen sei, wenn das Ziel einer Organisation die Bekämpfung einer die Menschenwürde nicht achtenden staatlichen Ordnung ist. Deshalb sei die innenpolitische Situation der Türkei erneut zu überprüfen. In der umfangreichen Begründung wurde dargestellt, dass Verfahren nach § 129b seit Jahren komplexe außen-, menschen- und völkerrechtliche Fragen zum Gegenstand des deutschen Strafrechts machen. Eigentlich nur für eine innereuropäische Geltung konzipiert (und erst nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auch auf außereuropäische Staaten ausgedehnt), führt der Paragraph beständig zu politischen Wertungen in deutschen Gerichtsälen, da viele Staaten außerhalb der EU keine Rechtsstaaten seien. «Tatbestandliche Handlungen» könnten in solchen Staaten auch als «verstehbare Reaktion auf staatliche Willkür erscheinen» und deshalb nicht strafwürdig sein, zitierten sie aus den Gesetzesmaterialien zur seinerzeitigen Verabschiedung des § 129b.
Mangels eindeutiger strafrechtlicher Normen bei der Beurteilung von so genannten «Organisationsdelikten» außerhalb der EU müssen den Verfahren nach § 129b daher notorisch ministerielle Entscheidungen vorangestellt werden, die sowohl den Charakter des bekämpften Staates als auch den der Organisation zum Gegenstand hat. «(…) Taten, die sich auf eine Vereinigung außerhalb der (…) der Europäischen Union beziehen, [werden] nur mit Ermächtigung des Bundesministeriums der Justiz verfolgt (…) und das Ministerium [soll] bei der Entscheidung (…) in Betracht ziehen (…), ob die Bestrebungen der Vereinigung gegen die Grundwerte einer die Würde des Menschen achtenden staatlichen Ordnung oder gegen das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet sind.»
Laut Verteidigung wandeln sich die Gerichte durch «die Bestimmung von strafrechtlich relevantem Verhalten (…) durch Rückgriff auf ministerielle Entscheidungen (…) „vom Mund des Gesetzes“ zum „Sprachrohr der Regierung“.» Und genau das hatte der Vorsitzende Richter Schreiber noch im Januar bejaht, indem er in seiner ablehnenden Begründung ausführte, nicht über die gleichen (außen-) politischen Informationen zu verfügen wie die Regierung. Es stünde dem Senat deshalb nicht zu, die erteilte Verfolgungsermächtigung anzuzweifeln oder auch nur überprüfen zu lassen. War diese Selbstentmündigung eines Gerichtes schon im Januar unverständlich, wäre eine gleichlautende Ablehnung des Antrags auf Überprüfung der Ermächtigung heute ein Skandal.
Rechtsstaat in der Türkei «potemkin’sches Dorf»
Die Reaktion der türkischen Regierung auf den versuchten Putsch am 15. Juli müsse endgültig vor Augen führen, dass die Türkei kein rechtsstaatliches Gebilde darstellt, so die Anwälte: «Die Türkei als demokratischer Rechtsstaat existiert seit dem 15./16. Juli 2016 nicht einmal mehr als potemkin’sches Dorf. Jeder künftige Verhandlungstag verkündet die Botschaft, dass auch das Nachputschregime Erdogans von der bundesdeutschen Justiz verteidigt und Widerstand gegen die Abschaffung der demokratischen sowie Menschenrechte durch die deutsche Justiz delegitimiert wird.» Mittlerweile sind über 17.000 Menschen inhaftiert worden, 81.000 Staatsbedienstete wurden entlassen (Stand vom 13.8. lt. DLF) Darunter befinden sich Richter und Staatsanwälte (auch des höchsten Gerichtes), Akademiker, Journalisten und Militärs. Die Verhängung des Ausnahmezustands und die Aufkündigung der europäischen Menschenrechtskonvention entzieht u.a. politischen Gefangenen fundamentale Rechte und schränkt die Meinungs- und Versammlungsfreiheit ein.
Wie Yener Sözen und Roland Meister klarstellten, wird auch das Verfahren gegen Latife u.a. auf der Grundlage von Erkenntnissen geführt, die aus Rechtshilfeersuchen an die Türkei stammen. Insbesondere hinsichtlich der DHKP-C stützen sich die Anklagen vor deutschen Gerichten auf Erkenntnisse türkischer Sicherheitsbehörden. Einige der Polizeibeamten, wie Serdar Bayraktutan, die diese Erkenntnisse für die deutschen Behörden erhoben, seien schon vor dem Putschversuch wegen «Verfälschung von Beweismitteln», also interessengeleiteter Polizeiarbeit, inhaftiert gewesen. Jetzt sei mit den Massenverhaftungen, etwa von hochrangigen Polizisten, darunter auch von Mitgliedern der Anti-Terroreinheiten, klar geworden, dass sich die türkischen Sicherheitsbehörden von politischen Zielen leiten lassen. Es ginge also nicht um «erkenntnisbasierte Ermittlungen, sondern um die Umsetzung politischer Interessen um jeden Preis.»
Unrechtsstaat schon vor dem 15. Juli
Die anschließend von den Rechtsanwälten vorgetragene, bedrückende Aufzählung zeigte auf, dass in der Türkei aber auch bereits vor dem gescheiterten Putschversuch – auch im anklagerelevanten Zeitraum (2009-2014) des Prozesses gegen Latife – «insbesondere von 2002 bis heute, (…) zahlreich und systematisch grundlegende und in einem Rechtsstaat unverzichtbare Menschenrechte (…) verletzt [werden].» Es fände eine ethnische, politische und religiöse Verfolgung von Minderheiten statt, Grundrechte auf politische Teilhabe und Versammlungs-, Vereinigungs-, Meinungs-, Religions-, Presse- oder Kunstfreiheit seien nicht gewährleistet. Die Verteidigung verwies in diesem Zusammenhang besonders auf den staatlichen Umgang mit den kurdischen bzw. alevitischen Minderheiten in der Türkei.
Ausführlich wurden Zahlen zu extralegalen Hinrichtungen, so genannten «Morden unbekannter Täter», die dem Gendarmerie-Geheimdient JITEM zugeschrieben werden, und zur Praxis des «Verschwindenlassens» vorgetragen. So wurden durch den Menschenrechtsverein IHD zwischen 1994 und 2009 alleine 3.385 gewaltsame Todesfälle durch Hinrichtungen, durch Mord oder durch Folter dokumentiert. Hinzu kommen ungezählte Fälle «verschwundener» Personen. Folter ist in der Türkei auch noch in den Jahren nach 2010 dokumentiert, der IHD registrierte von 2000 bis 2014 insgesamt 20.056 Beschwerden über Folterpraxen in Polizei- oder Gendarmariestationen, in Gebäuden der Geheimdienst-Sondereinheiten oder in türkischen Gefängnissen.
Beeindruckend auch die lange Liste der Parteiverbote, die vom Verbot der HEP (Sosyaldemokrat Halkci Partisi) 1993 bis zum Verbot der DTP (Demokratik Toplum Partisi) im Jahr 2009 reicht. Für die Praxis der Parteiverbote wurde die Türkei 2002, 2010 und zuletzt 2016 durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilt. Seit den Wahlerfolgen der kurdisch-linken HDP (Halkların Demokratik Partisi) im Jahr 2015 ist auch diese Partei staatlicher Repression ausgesetzt, vor wenigen Tagen erst fanden Razzien gegen HDP-Büros und Verhaftungen von HDP-PolitikerInnen statt. Ein mögliches Verbot der HDP steht spätestens seit der Aufhebung der Immunität von 50 der 59 HDP-Ageordneten des türkischen Parlaments im Raum. Gegen den Vorsitzenden der Partei, Selahattin Demirtas, beantragte die Istanbuler Staatsanwaltschaft soeben fünf Jahre Haft in einem «Terrorismusverfahren».
Die «Terrorismus»-Vorwürfe werden von der türkischen Gesetzgebung willkürlich weit ausgelegt. Politiker, Journalistinnen, und Rechtsanwälte können schon durch Gespräche oder Reden, durch Berichterstattung oder die Übernahme eines Mandates ins Visier der türkischen Behörden geraten. Latifes Verteidigung versäumte nicht, darauf hinzuweisen, dass die Bundesregierung zwar einerseits im Rahmen der Verhandlungen zur Visafreiheit darauf besteht, dass die Türkei diese Willkürpraxis beendet, andererseits aber selber Terrorismusverfahren wie jenes gegen Latife betreibt, der nur der Vorsitz in einem migrantischen Verein zur Last gelegt wird. Alleine dieser Widerspruch sollte Grund genug sein, die aktuellen 129 b-Prozesse umgehend zu beenden.
Terrrorunterstützung durch die Türkei völkerrechtliches Verfahrenshindernis
Der Prozess in Düsseldorf steht, wie auch ähnliche Verfahren in München und Hamburg, jedoch auch nach internationalem Recht auf tönernen Füßen. Die Verteidigung führte detailliert aus, dass die Türkei, in deren Interesse die politischen Verfahren in Deutschland geführt werden, nachweislich wiederholt gegen das Völkerrecht verstoßen hat und bis heute noch verstößt. Ihre Unterstützung von bewaffneten Gruppen, die seit Jahren auf der Sanktionsliste der Vereinten Nationen stehen, wie die «Al Nusra» Miliz als Ableger von «Al Quaida» oder dem so genannten «Islamische Staat» (IS), ist hinreichend belegt. Die Verteidigung benannte als Beleg u.a. mehrere, bekannte Fälle von umfangreichen Waffenschmuggel nach Syrien, die vom «MIT», dem türkischen Auslandsgeheimdienst, durchgeführt wurden.
Laut Verteidigung sei die Tatsache einer türkischen Unterstützung für den «IS» im Stuttgarter Parallelverfahren gegen angebliche DHKP-C-Angehörige (siehe hier) selbst von Seiten des Generalbundesanwaltes anerkannt worden, indem sein Sitzungsvertreter einen Beweisantrag in der Sache mit dem Verweis abgelehnt habe, dass diese Tatsache «allgemeinkundig» sei. Ausdrücklich führte er aus, «es werde (…) nicht angezweifelt, dass der türkische Staat den IS unterstützt.» Die Verteidigung schloss mit der Feststellung, dass der «IS» bekanntermaßen schwerste Menschenrechts- und Kriegsverbrechen begeht. Seine logistische und militärische Unterstützung richte sich eindeutig gegen das «friedliche Zusammenleben der Völker». Daher stelle der türkische Staat offenkundig auch aus Sicht der Bundesanwaltschaft kein «Schutzgut im Sinne des § 129b StGB» dar.
Die Entscheidung über den Antrag der Verteidigung wird nach der dreiwöchigen Sommerpause ab dem 40. Verhandlungstag am 26.8.2016 erwartet. Ausnahmsweise beginnt der Prozess an diesem Tag erst mittags um 13:30 Uhr. Treffpunkt für alle, die das Verfahren solidarsch begleiten wollen, ist ab 13:15 Uhr vor dem Eingang der OLG-Nebenstelle am Kapellweg in Düsseldorf.