Türkei ist kein „Schutzgut“

Im dritten Artikel aus unserer vierseitigen Dokumentation zum Prozess in Düsseldorf versuchen wir, die juristischen Hintergründe der 129er-Prozesse gegen migrantische Menschen in Deutschland etwas zu erhellen. Das Infoblatt kann als pdf-Datei komplett hier angesehen und heruntergeladen werden.

„Sprachrohr der Regierung statt Mund des Gesetzes“
(aus: Prozessinformation – Sommer 2016)

Latifes Verteidiger beantragen die Einstellung des Verfahrens, da die Türkei kein “Schutzgut” nach den Vorgaben des § 129b darstellt. Zum juristischen Hintergrund der Verfahren nach § 129b, die von der Bundesregierung politisch bestimmt werden.

Die Anklagen gegen in Deutschland lebende türkische und kurdische Menschen fußen nicht auf juristischen, sondern ausdrücklich auf politischen Erwägungen. Mangels strafrechtlicher Normen bei der Beurteilung so genannter «Organisationsdelikte» von Gruppierungen, die außerhalb der EU aktiv sind, wird den Verfahren nach § 129b eine ministerielle Entscheidung vorangestellt; die sogenannte “Verfolgungsermächtigung” durch den Bundesjustizminister. Heiko Maas hat zuletzt 2011 die Ermächtigung “zur strafrechtlichen Verfolgung bereits begangener oder künftiger Taten von Mitgliedern der DHKP-C” erteilt, auf deren Grundlage dann auch Ermittlungen gegen Latife aufgenommen wurden. Um es mit den Worten der Verteidigung zu sagen, wandeln sich die Gerichte durch „die Bestimmung von strafrechtlich relevantem Verhalten (…) durch Rückgriff auf ministerielle Entscheidungen (…) ‘vom Mund des Gesetzes‘ zum ‘Sprachrohr der Regierung‘“.

Die ministerielle “Ermächtigung” ist unbestritten durch (außen-) politische Interessen der Bundesrepublik bestimmt. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie willkürlich erteilt werden darf. Der Gesetzgeber hat bei der Ausweitung des Paragraphen 129 auf “ausländische terroristische Vereinigungen” 2003 eine Strafverfolgung explizit ausgeschlossen, wenn das Ziel einer Organisation “die Bekämpfung einer die Menschenwürde nicht achtenden staatlichen Ordnung” ist. Es soll zwischen “Befreiungsorganisationen” und “terroristischen Organisationen” unterschieden werden, die eine legitime demokratische Ordnung stürzen wollen.

Die Beurteilung, um was von beidem es sich handelt, soll sowohl den Charakter des bekämpften Staates als auch den der Organisation zum Gegenstand haben: „ (…) das Ministerium [soll] bei der Entscheidung (…) in Betracht ziehen (…), ob die Bestrebungen der Vereinigung gegen die Grundwerte einer die Würde des Menschen achtenden staatlichen Ordnung oder gegen das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet sind“, heißt es dazu im Gesetzes-Begleittext. «Tatbestandliche Handlungen» könnten in Nicht-Rechtsstaaten auch als «verstehbare Reaktion auf staatliche Willkür erscheinen» und nicht strafwürdig sein.

Deshalb ist regelmäßig zu überprüfen, ob ein ausländischer Staat wie die Türkei ein «taugliches Schutzgut» darstellt. Vor dem Hintergrund vergangener und aktueller Entwicklungen in der Türkei sehen die beiden Verteidiger von Latife genau dafür endgültig keinerlei Grundlage mehr, und forderten am 3. August die Verfahrenseinstellung bzw. Überprüfung der ministeriellen Verfolgungsermächtigung. Die Türkei sei offenkundig kein rechtsstaatliches Gebilde, das es zu schützen gelte. Spätestens die Reaktion der türkischen Regierung auf den versuchten Putsch am 15. Juli führe das vor Augen, so die Verteidigung. Darüberhinaus verstoße die Türkei durch Unterstützung des „IS“ massiv und fortgesetzt gegen Völkerrecht.

Mittlerweile sind seit dem versuchten Putsch über 17.000 Menschen inhaftiert worden, 81.000 Staatsbedienstete wurden entlassen. Darunter befinden sich Richterinnen und Staatsanwälte, Akademikerinnen, Journalisten und Militärs. Die Verhängung des Ausnahmezustands und die Aufkündigung der Menschenrechtskonvention entzieht politischen Gefangenen fundamentale Rechte und schränkt die Meinungs- und Versammlungsfreiheit ein.

In der Türkei wurden bereits vor dem gescheiterten Putschversuch systematisch Menschenrechte verletzt. Seit Jahrzehnten findet eine ethnische, politische und religiöse Verfolgung insbesondere der kurdischen bzw. alevitischen Minderheit statt. Es gibt zahlreiche extralegale Hinrichtungen, so genannte „Morde unbekannter Täter“ und die verbreitete Praxis des „Verschwindenlassens“. So wurden durch den Menschenrechtsverein IHD alleine zwischen 1994 und 2009 über 3.000 gewaltsame Todesfälle durch Hinrichtungen, Mord oder durch Folter dokumentiert. Hinzu kommen ungezählte Fälle „verschwundener“ Personen.

Beeindruckend lang ist auch die Liste der Parteiverbote, wofür die Türkei mehrfach durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilt wurde. Seit den Wahlerfolgen der kurdisch-linken HDP im Juni 2015 ist nun auch diese Partei staatlicher Repression ausgesetzt. Gegen den Vorsitzenden der Partei, Selahattin Demirtas, beantragte die Istanbuler Staatsanwaltschaft fünf Jahre Haft in einem Terrorismusverfahren. Der Begriff des „Terrorismus“ wird in der Türkei willkürlich weit ausgelegt. Politiker, Journalistinnen, und Rechtsanwälte können schon durch Gespräche oder Reden, durch Artikel oder die Übernahme eines Mandates ins Visier der Behörden geraten.

Die Bundesregierung und die EU-Kommission  fordern im Rahmen der Verhandlungen zur Visafreiheit, dass die Türkei diese Willkürpraxis beendet und den Terrorismusbegriff abändert. Gleichzeitig betreiben deutsche Gerichte auf ministerielle Anweisung hin Terrorismusverfahren wie jenes gegen Latife, der keinerlei Straftat als allein der Vorsitz in einem migrantischen Verein vorgeworfen wird. Bereits dieser Widerspruch sollte ausreichen, die laufenden 129 b-Verfahren umgehend zu beenden.

Weitergehende Infos zum Antrag der Verteidigung

Interview mit Latife

Zweiter Artikel aus unserer vierseitigen Dokumentation zum Prozess in Düsseldorf. Das Infoblatt kann als pdf-Datei komplett hier angesehen und heruntergeladen werden.

„Ich habe mir nicht vorstellen können, dass mir sowas passieren würde”
(aus: Prozessinformation – Sommer 2016)

Latife, das Verfahren gegen dich läuft nun seit mehr als einem Jahr. Was macht das mit dir, wie bestimmt der Prozess deinen Alltag?

Am Anfang war es für mich sehr stressig. Ich wusste nicht, wie ich das schaffen sollte. Ich wusste nur, ich muss mich verteidigen, aber die Mittel dafür kannte ich noch nicht. Inzwischen denke ich jedes Mal, wenn das Gericht neue „Beweismittel“ gegen mich einführt, wie lächerlich das eigentlich ist. Das Gericht macht sich lächerlich mit der Anklage gegen mich. Andererseits weiß ich ja, dass auch andere schon wegen lächerlichen Beweisen verurteilt worden sind…. Natürlich hat man das Verfahren immer im Hinterkopf, und es frisst auch viel Zeit und Kraft im Alltag. Mindestens zwei Tage die Woche bin ich nur mit dem Prozess beschäftigt, und nebenbei arbeite ich in unserem Kiosk und als Altenpflegerin. Es ist schon eine Belastung für die ganze Familie. Und es ist ein Hindernis auch für meine politische Arbeit, denn ich bin ja nur unter Auflagen auf freiem Fuß.
Vielleicht gehört so etwas aber einfach zum Leben, wenn man politisch arbeitet. Aber ich kann meine Augen ja nicht zumachen.

Hättest du denn vor deiner Verhaftung 2013 gedacht, dass du jemals für deine politische Tätigkeit vor Gericht stehen würdest?

Nein, habe ich nicht. Als Vorsitzende der Anatolischen Föderation habe ich völlig legale politische Arbeit für Migranten und Migrantinnen gemacht und mir nicht vorstellen können, dass mir so etwas passieren würde. Die Anatolische Föderation ist eine Selbstorganisation von Familien mit Migrationshintergrund. Ich habe viel Arbeit mit türkischen und kurdischen Frauen gemacht, damit die Frauen stärker werden und sich gegen Gewalt von Männern und gegen Rassismus organisieren; deshalb haben wir sehr viel Bildungsarbeit zur Unterdrückung der Frauen und zum Kampf der Frauen für Gleichberechtigung gemacht. Ein anderer wichtiger Teil war unsere Arbeit für migrantische Jugendliche. Viele unserer Jugendlichen kommen aus ärmeren Arbeiterfamilien und haben wegen fehlender Ausbildung und auch wegen Rassismus schlechte Chancen.

Wie reagiert dein Umfeld, bekommst du genug Unterstützung?

Ja. Solidarität ist schon da. Auch wenn nicht so viele Leute zu den Gerichtsterminen kommen, fühle ich mich nicht alleine. Einige Freunde und Freundinnen sind immer da, viele sind in Gedanken solidarisch bei mir. Viele verfolgen sehr genau was passiert, und fragen mich immer mal wieder. Letztens habe ich in der Initiative, die die Geflüchteten am Ölberg unterstützt, eine Frau getroffen. Ich kannte sie vorher gar nicht, aber wir kamen ins Gespräch, und als ich ihr meinen Namen sagte, meinte sie: „Ach, du bist also unsere Latife, gegen die der Prozess gerade läuft!“. Jetzt sind wir Freundinnen. Es gibt viel Solidarität in der Nachbarschaft.