Die Angst des Staates

Montag, 20.7.2015:
Vierter Tag im Prozess gegen Latife

Am Montag, den 20.7. stand erneut eine Videovorführung auf dem Programm. Wie schon am Verhandlungstag zuvor musste das Gericht dazu in den großen Saal 1 des Gebäudes am Kapellweg 36 umziehen – die Videotechnik konnte während der Prozesspause offenbar nicht repariert werden. Saal 1 ist ein überdimensionierter Betonklotz mit einer auffälligen Inszenierung von Rechtsstaatlichkeit: An den Wänden befinden sich unzählige Aktenordner. Die Botschaft, die diese Raumdekoration vermitteln soll, ist klar: Alles hier geht einen ordentlichen bürokratischen Gang. Nichts, was nicht zwischen zwei Aktendeckel passen würde. Nichts, was nicht passend gemacht werden könnte.

Was anscheinend zu beweisen war…

Zu sehen gab es diesmal eine TV-Sendung aus dem Jahr 2010. In einer Talkshow eines migrantischen türkischen Senders war Latife zu Gast. Anlass war die seinerzeit bevorstehende Eröffnung des neuen Vereinslokales der Anatolischen Föderation in der Charlottenstraße auf dem Wuppertal-Elberfelder Ölberg. Zu dieser Eröffnung hatte der migrantische Verein breit eingeladen, etwa 110 Gäste kamen. Bei der Eröffnungsfeier gab es Reden von Vertreter*innen der Partei «Die LINKE», der «MLPD», dem Frauenverband «Courage» und natürlich auch von der Vorsitzenden des Vereins, Latife. Die Gäste sahen einen Sketch einer Jugendgruppe, ein Video zum Thema Rassismus und folkloristische Vorführungen. Das alles wurde gewissenhaft durch die Polizei recherchiert: In den Akten finden sich so «Beweise» dafür, dass es die Anatolische Föderation wirklich gab (angeführter Beweis: Internetseite); dass sich das Lokal in der Charlottenstraße befand (Beweis: Internetseite); dass es eröffnet werden sollte (Beweis: eine öffentliche Einladung); dass Latife Vorsitzende ist (Beweis wieder die Internetseite der Föderation) und schließlich, dass die angekündigte Feier auch stattfand (Beweis: ein Artikel der Zeitschrift «Yürüyüş»).

Die Sendung, die alle Anwesenden fast komplett zu sehen bekamen, und die für die Eröffnung des Vereinslokals werben sollte, zeigte hauptsächlich einen äußerst eitlen, selbstgeschriebene Gedichte vortragenden Moderator, der sich darüber beschwerte, außer Latife keine weiteren Studiogäste vorzufinden, musikalische Darbietungen und doch auch einige Gesprächspassagen zur Anatolischen Föderation. In diesen beschrieb Latife den Sinn und Zweck migrantischer Selbstorganisation. Die Anatolische Föderation sollte künftig bis dahin nebeneinander tätige Vereine und Gruppen unter einem Dach zusammenbringen, um «nicht nur Tee und Kaffee zu trinken», sondern um migrantische Rechte in der Praxis anzuwenden und überall zu verteidigen. Die Anatolische Föderation wollte die Kräfte bündeln. Die Zahl der aktiven Föderations-Mitglieder, die das in Angriff nehmen wollten, wurde von Latife mit etwa 300 beziffert, bundesweit seien jedoch etwa 1.000 Menschen aktiv. Der Vereinsgründung sei insgesamt ein sechsjähriger Prozess des Dialogs mit Migrant*innen vorausgegangen.

Migrantische Selbstorganisation als Fokus

Eine weitere Gesprächsrunde folgt nach weiteren selbstgedichteten Versen des Moderators. Latife wird nach den letzten Aktivitäten der Anatolischen Föderation befragt. Sie erwähnt die damals angelaufene Kampagne der Anatolischen Föderation gegen Rassismus und führt aus, dass es angesichts zunehmender erkannter und unerkannter Gewalt gegen Migrant*innen notwendig sei, einen starken Selbstschutz aufzubauen und sich gegen Rassismus in der deutschen Gesellschaft zu organisieren. Doch auch Repression war 2010 bereits ein Thema: Im Zuge der Kampagne seien drei Freunde wegen ganz normaler Vereinstätigkeit verhaftet worden. Sie hätten Demonstrationen organisiert und die antirassistische Kampagne durchgeführt – migrantische Arbeit würde quasi verboten, während Ermittlungen zu rassistischen Angriffen oft katastrophal verliefen.

Nach weiterem Moderatorengeplänkel, Musik, Werbeeinblendungen und einem Gespräch über die Wichtigkeit der kulturellen Identität, bzw. der Wichtigkeit von Kulturarbeit insgesamt, endet die Sendung schließlich mit einem erneuten Appell Latifes an die migrantischen Zuschauer*innen, sich ihrer Probleme anzunehmen: Am Arbeitsplatz oder in der Erwerbslosigkeit, in der Schule und Zuhause. Sie müssten sich außerdem auf eine Zeit vorbereiten, in der der Rassismus «zu stark» sein wird um ihn zu ignorieren – bereits jetzt [also in 2010] hätten viele Migrant*innen Angst «auf die Straße zu gehen». Nur ein Zusammenschluss antirassistischer Menschen jeder Sprache, jeder Nationalität und jeder religiösen Ausrichtung könne dagegen helfen.

Geht es genau darum?

Die ganze Zeit warten die Beobachter im Gerichtssaal darauf, dass in dem Gespräch etwas zur Sprache käme, aus dem sich im Sinne der Anklage hätte ein Vorwurf konstruieren lassen, schließlich wurde der Mitschnitt von der Generalstaatsanwaltschaft als Beweismittel eingebracht. Sie warteten vergeblich. Vielmehr war das, was im Verlauf der Sendung von Latife geäussert wurde, eine absolute Bestätigung ihrer eigenen Einlassung zum Antrag auf Verfahrenseinstellung. Sie beschrieb ausschließlich eine auf hiesige Aufgaben ausgerichtete Vereinsarbeit der Anatolischen Föderation – nirgends gab es in dem türkischsprachigen Interview auch nur eine Andeutung die sich auf die Politik in der Türkei oder gar auf den militanten Widerstand dort bezogen hätte. Es war nichtmal besonders «politisch» im Sinne von «linksradikal», was Latife auf die Fragen des Moderators antwortete. Es beschränkte sich darauf, für eine starke und selbstbewusste migrantische Selbstorganisation zu werben, die vor allem dem Rassismus in der Gesellschaft etwas entgegenzusetzen hat.

Doch je länger das Gesehene auf den Betrachter einwirkte, umso mehr verflüchtigte sich der Eindruck des gnadenlos Absurden. Die Verständnislosigkeit angesichts eines solchen «Beweismittels» wich nach einiger Zeit der Erkenntnis, dass es tatsächlich eben nicht um militante Aktionen in der Türkei geht, sondern vielleicht genau um das, was Latife im Video mehrfach ausgeführt hatte: Nämlich darum, die im Fernsehgespräch angemahnte «migrantische Selbstorganisation» anzuklagen. In dem von Latife beschriebenen Sinn könnte eine solche starke Selbstorganisation in Deutschland lebender Migrant*innen tatsächlich eine «Rote Linie» eines Staates berühren, der mit wortreichen Konzepten von «Integration» und mit paternalistischem «Verständnis» hantiert, Migrant*innen andererseits aber nie wirklich Teil eines solcherart konstruierten «wir» werden lässt.

Die Angst des Staates vor selbstbewussten Migrant*innen

Viele Bilder gingen dem Beobachter durch den Kopf: Latife in der ersten Reihe der Demo in Solingen, mit der den Opfern des Brandanschlags von 1993 gedacht wurde; der mörderische Brand, dem fünf Menschen zum Opfer fielen; die dem Brand damals folgenden tagelangen Riots meist junger türkischstämmiger Menschen auf Solingens Straßen; die spürbare Angst der Polizei, des Staates und der Politik vor der zornigen Trauer der türkischen Community. Erstmals nach Hoyerswerda, Rostock und Mölln hatten Migrant*innen nach der Eskalation des deutschen Rassismus Anfang der Neunziger ihre Wut auf die Straße getragen, deutsche Antifaschist*innen und türkische Nachbar*innen begannen in den Vierteln zusammenzuarbeiten. Eine Erfahrung, die bei Polizei und Innenpolitik noch lange nachwirkte.

Vor dem inneren Auge tauchten auch unsere eigenen erschrockenen Gesichter wieder auf in die wir geblickt hatten, nachdem wir  – auf dem Höhepunkt der Gezi-Proteste in istanbul und einer neugewonnenen gemeinsamen Aktionsfähigkeit in Wuppertal – von Latifes Verhaftung erfuhren. Eine Aktionsfähigkeit und Solidarität, die von der Verhaftung Latifes dann ganz «zufällig» im Sommers 2013 zerstört wurde. Kann es also sein, dass der damalige Verdacht, die Verhaftungswelle gegen die Vereinsmitglieder der Anatolischen Föderation stünde mit den Solidaritätsaktionen für die Gezi-Proteste in istanbul in Zusammenhang, nicht ganz falsch war? Kann es sein, dass hier einerseits dem türkischen Staat ein Gefallen getan wurde und andererseits eine neu erstarkende migrantische Bewegung, die sich ja nicht nur in Wuppertal fast jede Woche auf der Straße zeigte und in ihrer alte Gräben überwindenden Einigkeit den geschilderten Zielen der Anatolischen Föderation nahe kam, zerschlagen werden sollte?

Kann es sein, dass der deutsche Staat, der zehn Jahre lang mindestens dabei zusieht, wie Naziterroristen Mitmenschen ermorden, die Angehörigen der Opfer jedoch nachträglich aus der Gemeinschaft exkludiert und sogar verdächtigt, Angst davor hat, dass migrantische Communities noch einmal ihren Zorn über rassistische Normalzustände artikulieren und in ein Handeln verwandeln? Wird Latife angeklagt, weil sie eben diese migrantische Selbstorganisation immer wieder eingefordert hat?

Nachtrag – Zeugen rufen bei Gericht an

So komisch das vorgeführte Video an einigen Stellen auch war – nach dem Prozesstag blieb deshalb ein klammes Gefühl. Wenn es dem Staat in Wirklichkeit darum geht, migrantische Politik einzuschüchtern und anzuklagen, stehen uns noch einige schwierige Prozesswochen bevor. Endgültig deprimiert waren wir, als wir beim Verlassen des Gerichtsgebäudes dann auch noch von den neuesten Entwicklungen in der Türkei erfuhren – in Suruç waren wenige Stunden zuvor über dreissig jungen Helfer*innen für das zerstörte Kobani bei einem Selbstmordattentat getötet worden. Der Kontrast zwischen der Anklage gegen unsere Freundin und der mörderischen Realität faschistischer Gewalt war schwer zu bewältigen.

Nachtrag: Der Prozesstag war mit dem Video noch nicht ganz vorbei. Nach der erwarteten Ablehnung des Antrags auf Verfahrenseinstellung vom zweiten Tag des Verfahrens durch den Vorsitzenden Richter Schreiber gab es noch einige Informationen über Ereignisse während der dreiwöchigen Verfahrenspause. Besonders bemerkenswert war dabei, dass die BKA-Zeugen der nächsten Prozesstage bei Gericht angerufen hatten um einmal nachzufragen, wozu sie denn im Verfahren befragt werden sollen. Auch wenn das zur Einholung von Aussagengenehmigungen vielleicht nicht unüblich ist, bleibt dabei ein schlechter Geschmack. Was sind Zeugenaussagen wert, die zuvor mit dem Gericht abgesprochen worden sind?