Geforderte Prozesseinstellung

Donnerstag, 25.6.2015:
Zweiter Tag im Prozess gegen Latife

Nachdem der Prozessauftakt mit einer (Teil-) Verlesung der Anklageschrift im Zeichen der Generalstaatsanwaltschaft gestanden hatte, war der letzte Donnerstag ein Tag der Verteidigung und Latifes. Wie zu erwarten, fehlte die Presse, die in der Vorwoche den Beginn des Verfahrens noch mit einer manipulativen Berichterstattung begleitet hatte. Die nicht sehr zahlreich erschienene «Öffentlichkeit» erlebte dafür zunächst eine Ausweitung der «Sicherheitsmaßnahmen»; jetzt dürfen gar keine Taschen oder Rucksäcke und auch kein Trinkwasser mehr mit in das Gericht genommen werden.

Allgemeine und persönliche Unterdrückungsgeschichte

Angesichts der Dürftigkeit der in der Vorwoche vorgetragenen Anklage war es nicht überraschend, dass der Tag mit einem gemeinsamen Antrag auf Einstellung des Verfahrens durch RA Meister und Latife A. begann. Begründet wurde dies vom Verteidiger mit formalen Defiziten der Anklageschrift. Demnach hätte die Staatsanwaltschaft bei der Schilderung der DHKP-C-Aktionen, die immerhin ein gutes Drittel der gesamten Anklage ausmachen, zwingend auch die Vorgeschichte des militanten Kampfes in der Türkei und den mörderischen Charakter des türkischen Staates berücksichtigen müssen: Die Inhaftierungen, die Folter und das Sterben vieler Menschen bei Gefechten und in den Knästen. Alleine nach dem Militärputsch wurden zehntausende Revolutionäre festgenommen, gefoltert und auch getötet. RA Meister verwies in seiner Begründung dabei auch auf PKK-Verfahren, in denen die Rolle der Türkei und die Legitimität des kurdischen Kampfes auch nicht ausgeblendet werden dürfe, was von deutschen Gerichten zum Teil mittlerweile auch anerkannt würde.

Zuvor hatte auch Latife in ihrer Begründung zur beantragten Einstellung des Verfahrens auf die mörderische Unterdrückungsgeschichte der Türkei Bezug genommen. Sie tat dies allerdings mit einem historischen Rückgriff auf ihre eigene Geschichte als Kind, das in einer alevitsch-kurdischen Familie aus Dersim aufwuchs. Hier fand 1938 ein Genozid an an alevitischen Kurd*innen statt, dem bis zu 100.000 Menschen zum Opfer fielen, 50.000 Menschen wurden vertrieben und verloren ihre Heimat. Latife schilderte, dass erst kürzlich ein Massengrab in ihrem Heimatdorf entdeckt wurde, in dem sich die Überreste von 24 Menschen fanden. Unter ihnen waren auch Latifes Urgoßvater und ihre Großtante.

Als junge Frau kam Latife nach dem Militärputsch 1980 nach Deutschland und war von dieser Geschichte ihrer Heimat und ihrer Familie ebenso geprägt wie von miterlebten Ereignissen aus der Zeit des Putsches: Erneut wurden einige von Latifes Verwandten eingesperrt und gefoltert. Auch deshalb verliess sie die Türkei als überzeugte Antifaschistin und als linke Akteurin, die aufgrund der eigenen Geschichte ein Hauptbetätigungsfeld in der Arbeit für politische Flüchtlinge und Gefangene sah. Neben zahlreichen Kontakten zu linken und antifaschistischen Gruppen in Deutschland ergab sich so auch ein intensiver Kontakt zu «Tayad», eine international anerkannte Menschenrechtsorganisation in der Türkei, die von Angehörigen und Freund*innen inhaftierter politischer Gefangener nach dem Militärputsch gegründet wurde.

Niemals Mitglied einer Partei

Latife, die neben ihrer Arbeit in ihrem Geschäft auch noch als Betreuerin schwer Erkrankter tätig ist, betonte, dass ihre politische, humanistische und soziale Arbeit bis heute durch viele Kontakte zu Menschen geprägt ist, die sie durch die Arbeit für «Tayad» bekam. In diesem Zusammenhang legte Latife großen Wert auf die Feststellung, dass sie niemals Mitglied einer politischen Partei war, auch nicht der DHKP-C. Ihr Ziel sei vielmehr, mit der Arbeit in der «Anatolischen Föderation» für demokratische Rechte von Migrant*innen aus der Türkei einzutreten und sich dabei vor allem um Probleme der inzwischen gealterten ersten Generation von zugezogenen Menschen zu kümmern.

Für Latife und die «Anatolische Föderation» sei es aber ebenso wichtig, den jüngeren Menschen «neue Perspektiven auf ihre eigene Kultur» zu vermitteln. Dabei verwies Latife auf eine traditionell «stärkere soziale und moralische Verbundenheit» türkischstämmiger Migrant*innen, die im Gegensatz zu einer individualistische Grundeinstellung und den wirtschaftlichen und politischen Problemen der neuen Heimat stehe – ein Gegensatz, der oft zum Verlust eines «kollektivistischen Lebenstils», von «Identität» und «Lebensfreude» führe. Daraus resultuerende Konflikte würden in der Folge häufig zu Erniedrigungen und «kultureller Diskriminierung» von Migrant*innen führen, so Latife. Die «Anatolische Föderation» will die Menschen in dieser Situation unterstützen, betonte die ehemalige Vorsitzende des Vereins.

Ein zentraler Punkt bei dieser Unterstützung ist für Latife das Eintreten für das oft nur sehr eingeschränkt vorhandene Recht auf politische Betätigung und Mitsprache der Migrant*innen. Es einzufordern und ständig zu verteidigen sei die Basis der Arbeit der «Anatolischen Föderation». Auch angesichts vieler rassistischer Übergriffe und Anschläge auf Migrant*innen in Deutschland sei eine stärkere politische Partizipation hier lebender Migrant*innen notwendig und selbstverständlich, was zuletzt zu einem besonderen antirassistischen Engagement der «Anatolischen Föderation» nach der Selbstenttarnung des «NSU» geführt habe und zur Forderung, die Zusammenarbeit des deutschen Staates in Form von Polizei und Verfassungsschutz mit dem «NSU» aufzudecken.

Recht auf Selbstorganisation

In der Folge ging Latife auf den demokratischen Charakter der «Anatolischen Föderation» ein, der von der Staatsanwaltschaft bestritten wird. So sei die Gründung nach einer Umfrage unter türkischstämmigen Migrant*innen in Europa erfolgt, die von Kommissionen verschiedner lokaler Vereine aus Deutschland organisiert worden war. Das Ziel sei gewesen, Vorstellungen der Migrant*innen zu einem europäischen Organisationsmodell in Erfahrung zu bringen. Sie selbst sei 2009 in einem demokratischen Verfahren zur Vorsitzenden der «Anatolischen Föderation» vorgeschlagen und schließlich gewählt worden. Vom Verein wurden Demonstrationen gegen Rassismus und Faschismus in jeglicher Form, Infostände und Veranstaltungen organisiert, die sämtlich rechtmäßig angemeldet waren. Sie habe als Vorsitzende zudem vielfältige Kontakte zu Menschen eines breiten politischen Spektrums in Wuppertal, in NRW und in ganz Deutschland geknüpft.

Latife schloss ihren Vortrag mit der Feststellung, dass viele Migrant*innen mit der Überzeugung nach Deutschland kommen, dass es sich dabei um ein demokratisches Land handele. Sie brächten Erfahrungenen von Verfolgung und Folter mit. Auch ihr sei es einst so ergangen. Doch die Hoffnung auf ein friedliches Leben in einem demokratischen Land werde jedoch oft enttäuscht, weil eine echte Integration aufgrund familiärer und politischer Probleme schwierig sei. Daher müssten Migrant*innen sich selbst organisieren, was ein Grundrecht darstelle, von dem die «Anatolische Föderation» Gebrauch gemacht habe. Das auf Behauptungen und Mutmaßungen basierende Streuen des Verdachts, sie stelle als Vorsitzende der «Anatolischen Föderation» eine «Gefahr für die Bevölkerung» dar, sei deshalb ein Verstoß gegen das deutsche Grundgesetz.

Die dafür herangezogenen Paragraphen 129a und b bezeichnete Latife in ihrer Erklärung als Gesinnungsstrafrecht, mit dem antifaschistische und politisch aktive Menschen nach Belieben verhaftet, eingesperrt und isoliert werden. Sie, die seit Jahrzehnten öffentlich und offen politisch gearbeitet habe, zu verhaften und ihre Bewegungs- und politische Betätigungsfreiheit jahrelang einzuschränken, sei daher nicht nur ungerecht und unmenschlisch, sondern auch rechtlich unzulässig, weshalb sie die Einstellung des Verfahrens fordere.

Kleiner Lichtblick

Über den Antrag zur Verfahrenseinstellung wird das Gericht noch entscheiden, zunächst erhält die Staatsanwaltschaft Gelegenheit zur Stellungnahme. Mit einem kleinen Lichtblick für Latife ging der zweite Tag des Verfahren dann schließlich zuende: Die Auflagen, die ihr seit der Haftverschonung im Sommer 2013 das Leben schwer machten, wurden zumindest teilweise durch das Gericht gelockert. Zwar darf sie nach wie vor keinerlei Kontakt zu ihren Freund*innen aus der «Anatolischen Föderation» unterhalten, doch wurde ihr ein allgemeines politisches Betätigungsrecht nun explizit eingeräumt. Auch die Auflage, die Stadt Wuppertal nicht ohne einen Antrag zu verlassen wurde gekippt und die Meldeauflagen zudem gelockert.

Alles Terrorismus!

Donnerstag, 18.6.2015:
Der erste Prozesstag im Verfahren wegen §129 gegen unsere Freundin Latife

Vorspiel

Das «Nebengebäude» des Ober-Landesgerichts Düsseldorf im Kapellweg 36 tut das, was das ganze Verfahren nach §129 gegen Latife tun soll: Es schüchtert ein. Schon das Betreten des Hochsicherheitsbaus mit der Beton-Ästethik der bleiernen Zeit fordert von Besucher*innen und mehr noch von Beschuldigten ab, sich nicht beeindrucken zu lassen. Nach Durchschreiten von hörbar in den Verschluss fallenden Zugangstüren, peniblen Kontrollen und konfrontiert mit an seiner Bewaffnung herumfingerndem Personal, das schon bloßes Interesse am Verfahren für potentiell gefährlich hält, wird sofort deutlich, worum es in diesem Gebäude geht: Um Unschädlichmachung erkannter Feinde. Aufrechterhalten wird unter diesen Umständen eine Minimalvariante von Rechtsstaatlichkeit, die dem Staat die Legitimation geben soll Angeklagte zu isolieren, zu brechen und wegzusperren. Erwartungen an echte Beweisführung und Ergebnisoffenheit eines Verfahrens werden in den kalten Räumen des OLG von Anfang an zurechtgestutzt.

Ganz verschiedene «Feinde des Rechtstaats» durchlaufen diese Prozedur seit Jahren. Zuletzt sind unter ihnen auch radikalreligiöse Fanatiker, die als Unterstützer*innen des «islamistischen» Terrors angeklagt sind, seit Jahren jedoch sind es meistens Linke verschiedener Gruppen, die hier abgeurteilt werden sollen. In den wenigsten Fällen wird ihnen der Prozess wegen konkreter Verbrechensvorwürfe gemacht: Kaum eine/r der hier Angeklagten hat je Dinge getan, die irgendwen in Deutschland geschädigt oder gar verletzt hätten. Die Anklagen beziehen sich zumeist auf den §129b, der 2003 eingeführt wurde, vorgeblich als Reaktion auf die Anschläge am 11.9.2001 in New York. «129b» bedeutet, durch eine willkürlich definierte Tätigkeit von hier aus eine auf der ebenso willkürlich ausgewählten internationalen Terrorliste befindliche Organisation in irgendeinem Winkel der Welt unterstützt zu haben.

«Unterstützung» heißt dabei «Propaganda», «Geldsammlung» oder auch etwas ganz anderes – im Kern wird den Beschuldigten immer eine internationalistische solidarische Handlung vorgeworfen. Die kann z.B. aus Zeitschriftenverkauf, der Organisation von Veranstaltungen oder Konzerten oder auch ganz anderen legalen «Taten» bestehen. Generationen deutscher «Internationalist*innen» wären im Knast gelandet, wenn es zur Zeit von «Waffen für El Salvador» oder anderen Kampagnen den Paragraphen 129b bereits gegeben hätte. Heute sind von den Anklagen zumeist Migrant*innen betroffen, die oft genug nach einer Flucht vor faschistischen Regierungen in Deutschland gelandet sind. Ihnen wird eine Unterstützung von Organisationen wie zum Beispiel der PKK vorgeworfen, die trotz der veränderten Kriegslagen in Syrien und im Irak ihren Eintrag auf der Terrorliste nicht verloren hat. Angeklagt sind aber seit Jahren auch immer wieder lange in Deutschland lebende türkische Linke, denen alternativ zur PKK eine aktive Unterstützung etwa der TKP oder der DHKP-C vorgeworfen wird, die in der Türkei – teilweise seit den Zeiten des Militärdiktatur – militant für ihre Ziele kämpfen.

Die Wellen der Repression gegen hier lebende vermeintliche Sympathisant*innen einzelner Organisationen haben dabei eine eigene Konjunktur. Je nach Lage in der Türkei und je nach Lage für die dort jeweils Regierenden, erwischt es mal die eine, mal die andere Struktur exiltürkischer und -kurdischer Menschen. Derzeit steht besonders die TKP im Fokus der Bundesanwaltschaft, vermutlich, weil sie eine besondere Rolle im Kampf an der Seite der syrischen Kurd*innen im Krieg gegen die von der Türkei unterstützten IS-Milizen einnimmt. Erst im April kam es in diesem Zusammenhang zu einer Welle von Razzien gegen linke Türk*innen in Deutschland. Im Sommer 2013 – während des Gezi-Aufstands in vielen türkischen Städten – waren hingegen hauptsächlich Menschen im Visier, denen deutsche Ermittler*innen Sympathien für die DHKP-C unterstellten. Kampferfahrene, militante Strukturen dieser Organisation waren u.a. damals nicht unwichtig bei der Verteidigung bestimmter Stadtteile und Viertel gegen die Truppen Tayip Erdogans. Soviel sollte man wissen.

Ouvertüre

In jenem Sommer 2013 kam es auch zur Verhaftung unserer Freundin Latife als Vorsitzende des eingetragenen Vereins «Anatolische Föderation», mit der uns eine langjährige gemeinsame antifaschistische und linke Arbeit in Wuppertal verbindet. Am Morgen des 26. Juni stürmte ein SEK ihre Wohnung und verhaftete die unbewaffnete Frau vor den Augen ihrer 14-jährigen Tochter. Weitere Beamt*innen durchsuchten zur gleichen Zeit ihr kleines Einzelhandelsgeschäft und ihren Kleingarten sowie die Räume der «Anatolischen Föderation», die ihren Sitz in Wuppertal hat. Der Verein, der sich für Rechte in Deutschland lebender Migrant*innen und geflüchteter Menschen und immer wieder auch gegen Faschismus und Nazis einsetzt, war und ist auf dem Wuppertal-Elberfelder Ölberg ein Akteur, der sich gerne an den Festen im Quartier und an anderen nachbarschaftlichen Aktivitäten beteiligt. Viele kannten und kennen Latife daher als immer solidarische und zuverlässige Freundin; ihre Mitarbeit in antifaschistischen Initiativen und Bündnissen war selbstverständlich.

Besonderes Interesse der Bundesanwaltschaft hatte 2013 das Konzert der in der Türkei sehr populären «Grup Yorum» in Oberhausen geweckt. «Grup Yorum», die in der Türkei selber oft Repressionen ausgesetzt sind, gelten für viele linke Kurd*innen und Türk*innen spektrenübergeifend als Flaggschiff glaubwürdigen kulturellen Widerstands. Ihr großes Konzert in Oberhausen fand auf dem Höhepunkt des «Gezi-Widerstands» statt und war daher ein zentrales Ereignis auch der Solidaritätsbewegung, die sich im Sommer 2013 fast täglich auch in NRW auf der Straße einfand, um gegen die Repression der AKP zu protestieren. Es kamen schließlich mehr als 10.000 Menschen zum «Grup Yorum» Konzert, die Stimmung in der «Arena» war sehr euphorisch. Die General-Staatsanwaltschaft in Düsseldorf warf Latife vor, Tickets für den Abend verkauft zu haben – mit dem angeblichen Ziel, durch den Erlös die DHKP-C zu unterstützen.

41 Tage lang wurde Latife in der Folge eingesperrt – zu Beginn unter den Bedingungen der Isolation, später unter leicht gelockerten Umständen. Wegen zweier minderjährigen Töchter und ihres fest in Wuppertal verankerten Lebens kam sie schließlich auf Kaution frei. Sie erlebt den nun im OLG Düsseldorf stattfindenden Prozess auf freiem Fuß, wenn auch mit teilweise erheblichen Auflagen. Das ist ein seltenes Glück, müssen andere Beschuldigte doch oft jahrelang in Haft auf ihr Verfahren und dessen Abschluss warten: Die am selben Tag wie Latife Inhaftierten sitzen so seit Juni 2013 im Knast. Bei anderen, wie dem schwer erkrankten, wegen Mordes angeklagten und vor kurzer Zeit nach einer für die Staatsanwälte unrühmlichen Verfahrenseinstellung freigelassenen Faruk Ereren, kann das dann auch schonmal sieben Jahre dauern.

Der 1. Akt

In Latifes Fall ist von den angeblich «konkreten» Vorwürfen nicht viel übrig geblieben. Das zeigte der Auftakt der Hauptverhandlung am 18.6., an dem durch die beiden Staatsanwält*innen eine Kurzversion der Anklage verlesen wurde. Hierin beschränkten sich die Anklagevertreter*innen im ersten Teil auf die Aufzählung aller Aktionen der DHKP-C in der Türkei. Als müsse zunächst die Existenz der Terrorliste insgesamt und die Zuordnung der DHPKP-C zu ihr quasi ritualisiert gerechtfertigt werden, obwohl vor deutschen Gerichte Zuordnungen ausländischer Gruppen zur «Terrorliste» in der Regel ohnehin nicht diskutabel sind. Einen stillen Lacher erntete die Anklage im Verlauf der Verlesung der Liste mit Anschlagsdaten mit der leicht eingeschnappten Bemerkung, die DHKP-C habe «auch noch nach Inkrafttreten des Paragraphen 129b mit ihren Aktionen weitergemacht». Mit Latife hatte das alles nichts zu tun. Im vollständigen Original der Anklage fällt ihr Name zum ersten Mal erst nach über einhundert Seiten.

Anschließend widmete sich die Anklage den Tätigkeiten von Latife für die «Anatolische Föderation». Mangels individuell nachweisbarer Handlungen, die als direkte Unterstützung der DHKP-C gewertet werden könnten, unternimmt die Generalstaatsanwaltschaft offensichtlich den Versuch, eine Deckungsgleichheit zwischen der türkischen Guerrilla und einem legalen migrantischen Verein in der Wuppertaler Nordstadt zu konstruieren. Konsequent daher, dass Latife in der Anklage auch direkt als «Funktionärin der DHKP-C» bezeichnet wird. Beleg für die Gleichsetzung des Wuppertaler Vereins mit der in der Türkei aktiven militanten Gruppe sind für die Staatsanwaltschaft fast folgerichtig alle Anmeldungen oder Teilnahmen an angemeldeten Demonstrationen, die Durchführung von öffentlichen legalen Veranstaltungen oder auch die Prozessbeobachtung in anderen Verfahren vor dem OLG Düsseldorf.

Dabei wurde es teilweise noch absurder als sich das bereits anhört. So wurde beispielsweise besonders Latifes Begleitung des Verfahrens gegen Faruk Ereren hervorgehoben, ungeachtet der Tatsache, dass das gleiche Gericht eben jenes Verfahren zuletzt hatte einstellen müssen, weil es auch nach mehreren Jahren keinen Beweis für einen angeblich von Faruk Ereren erteilten Auftrag zu einem Anschlag in Istanbul erbringen konnte. Gleichwohl bleibt für die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft auch die kritische Begleitung dieses skandalösen Prozesses eine Latife zur Last zu legende «Tat». Mit der wohl vollständigen Aufzählung der Demonstrationen, an denen Latife je teilgenommen hat, kippte die Anklage vollends ins Surreale. So sollen nicht nur die Anmeldung und Teilnahme an der Gedenkdemo in Solingen zum 20.Jahrestag des mörderischen Brandanschlags auf das Haus der Familie Genç, sondern auch Teilnahmen an den Wuppertaler Soli-Demonstrationen für den «Gezi-Aufstand» 2013 Teil der Funktionärstätigkeit Latifes für die DHKP-C gewesen sein.

Auf Partner*innen bei der Organisation und Durchführung einiger der genannten Demos wirkte das, als ob die Kundgebungen, die für die Staatsanwaltschaft offenbar auf direkte Anweisung aus der Türkei stattgefunden haben, insgesamt kriminalisiert und in Terrornähe gerückt werden sollen. Eine Auffassung, die Verständnislosigkeit und Empörung auslöste. Die Kette der «Taten», die verlesen wurden, wurde abschließend noch um einige Betrugsvorwüfe erweitert. So soll Latife durch falsch abgerechnete Seminare die ungeheure Summe von knapp 1.070 Euro ergaunert haben, mit denen u.a. die Stromrechnung des Vereinslokales der «Anatolischen Föderation» bezahlt worden sein soll. Der Kontrast zwischen den relevanten Vorwürfen und dem Hochsicherheitsgebäude, in dem verhandelt wird, könnte fast komisch sein, wäre nicht klar, dass es das Gericht ernst meint. Also nichts mit lustig. Zu düster sind die Emotionen, die kalte Architektur, kalte Staatsanwälte und allgegenwärtige bewaffnete Beamt*innen bei Besucher*innen und Beschuldigten auslösen.

Eine erste Kritik

Die Strategie der Anklage erscheint bei näherer Betrachtung wie ein Vabanque-Spiel, bei dem mit dem Leben unserer Freundin gespielt wird, denn Latife drohen bei einer Verurteilung zwischen drei und zehn Jahren Haft. So entstand der Eindruck, dass der Aufwand, der 2013 für die Jagd auf Zeitungs- und Ticketverkäufer*innen betrieben wurde – das systematische Ausforschen, das Abhören von Telefonen und politischen Treffen, die wochenlange Bespitzelung und hunderte Polizist*innen bei den Razzien und Verhaftungen – durch die Gleichsetzung eines migrantischen Vereins mit einer militanten Gruppe in der Türkei nachträglich gerechtfertigt werden soll. Zudem erhofft sich die Düsseldorfer Generalstaatsanwaltschaft offensichtlich eine Verschiebung der Grenze dessen, was in Deutschland möglich ist.

Ihr Versuch, die verantwortliche (Vorstands-) Tätigkeit in einem bis heute legalen Verein insgesamt und nachträglich zu kriminalisieren und aus der «Anatolischen Föderation» quasi so eine beim Amtsgericht eingetragene Terrorgruppe zu konstruieren, war bisher auch beim jetzt schon extensiv ausgelegten §129b nicht üblich. Die Staatsanwälte verlassen damit den bislang weidlich ausgenutzten Rahmen, in dem Angeklagten zumindest eine konkrete Unterstützung «ausländischer Terrorgruppen» nachgewiesen werden musste, sei sie auch so absurd, wie der Vorwurf, Latife habe rezeptfrei zu erwerbende «Vitamin B1»-Tabletten in die Türkei geschickt. Mit dieser Anklage versucht die Bundesanwaltschaft die gesamte Tätigkeit für einen legalen Verein als Terrorismus auszulegen, selbst wenn die «Taten» zuvor ordnunsggemäß bei der Polizei angemeldet werden, wie die erwähnten Demonstrationen.

Der Einsatz beider Seiten bei diesem Vabanque-Spiel ist also sehr hoch. Die Anklagebehörde hofft darauf, zukünftig nachträglich auch legale Strukturen kriminalisieren zu können und gleichzeitig einer Frau, die sie durch viele Prozessbeobachtungen jahrelang nervte, etwas «heimzahlen» zu können; sie kann aber durchaus auch die gesamte Anklage verlieren. Zu wackelig erscheint der Turm der Vorwürfe, der von ihr am ersten Prozesstag aufgeschichtet wurde. Ein weiterer Fehlschlag nach dem eingestellten Prozess gegen Faruk Ereren könnte da für manche einen Karriereknick bedeuten. Latifes unfreiwillige Einsatz bei diesem juristischen Poker ist hingegen ihr ganzes bisheriges Leben als Frau und Mutter, Ladenbesitzerin und politisch aktive Wuppertalerin. Doch außer einer Klarstellung eigentlich selbstverständlicher Rechte, wie bspw. dem Recht, Demonstrationen anzumelden, kann sie jedoch nichts weiter gewinnen. Das macht das Ganze unerträglich.

Für linke Strukturen in Wuppertal und darüberhinaus heißt das, Latife in diesem für sie existenziellen Kampf vor Gericht spektrenübergreifend nicht alleine zu lassen. Denn bei diesem Verfahren geht es, wie beschrieben, nicht nur um sie, und auch nicht um möglicherweise differierende politische Positionen. Es geht für uns alle um eine weitere, drastische Einschränkung der Möglichkeiten, politisch zu arbeiten. Eine Verurteilung Latifes bedeutete, dass sich niemand mehr vor einer Strafverfolgung sicher fühlen kann, der heute in einem Verein, einer Flüchtlingsinitiative oder einer anderen legalen Struktur migrantische und solidarische Arbeit leistet – auch wenn der entsprechende Verein und seine Ziele zu keinem Zeitpunkt verboten waren. Ungeachtet aktueller Legalität, hieße es z.B., keine Veranstaltungen zum kurdischen Widerstand in Syrien mehr durchführen zu können, ohne Gefahr zu laufen, in ein paar Jehren dafür angeklagt zu werden.

Wenn aus legalen Strukturen rückwirkend terroristische Vereinigungen werden können, werden die sowieso schon sehr weit gedehnten Gummiparagrahen 129a und 129b endgültig zu umfassenden und unkontrollierbaren Instrumenten staatlicher Willkür, Einschüchterung und Ausforschung von Opposition. An dieser Stelle werden wir weiter vom Prozess gegen Latife berichten. Solidarische Begleitung der Verhandlung ist ausdrücklich erwünscht. Die nächsten Verhandlungstage sind Donnerstag, 25.6. und Freitag, 26.6., jeweils ab 10:30 Uhr im OLG Düsseldorf (Nebengebäude), Kapellweg 36. Lasst Telephone und Rechner daheim und stellt euch auf die Feststellung eurer Personalien und eine Durchsuchung eurer Taschen und Kleidung am Eingang ein – kommt also etwas früher.

Freunde und Freundinnen von Latife