Sieben Minuten Autismus

Erwartungsgemäß und doch frustrierend war das Resultat des dritten Versuchs der Rechtsanwälte Latifes, das Verfahren vorzeitig zu einem guten Ende zu bringen. Der Einstellungsantrag vom 39. Prozesstag wurde zurückgewiesen.

Ganze sieben Minuten brauchte der Vorsitzende Richter am 5. Strafsenat des OLG Düsseldorf, Schreiber, um am 40. Verhandlungstag (26.08.) gegen Latife den dritten Einstellungsantrag der Rechtsanwälte abzubügeln. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den an den zwei vorangehenden Prozesstagen auf achtzig Seiten aufgeführten politischen und juristischen Argumenten der Verteidigung war dem lakonischen Vortrag des Zurückweisungsbeschlusses an keiner Stelle zu entnehmen. Der Senat verwies im Wesentlichen auf dieselben Ablehnungsgründe, die er schon bei der Ablehnung des zweiten Einstellungsantrags im Januar vorgebracht hatte. Ganz so, als wäre die Lage in der Türkei seitdem gänzlich unverändert, und als hätten die Anwälte nicht fundiert, komplex und detailreich auf zahlreiche Verfahrenshindernisse hingewiesen, die sich aus dem autoritären und antidemokratischen Charakter des türkischen Staates sowie aus dessen nachgewiesener Unterstützung militanter dschihadistischer Gruppen ergeben.

Auch die Entwicklungen in der Türkei nach dem gescheiterten Putschversuch am 15.7., die den Einstellungsantrag quasi in Echtzeit mit neuen Willkürakten, Verhaftungen und repressiven Meldungen begleiteten, prallten auf ein autistisches Gericht. Ganz so, als fände das Verfahren gegen Latife in einem eigenen Universum statt, in dem die politische Lage in ihrem Herkunftsland nichts mit dem politische Wirken der Angeklagten zu tun habe. Das ist paradox, behauptet die Anklage doch explizit, Latife habe für eine Organisation gearbeitet, die «gegen die Ordnung der türkischen Republik» gerichtet ist. Schreiber fand sich nicht dazu bereit, Menschenrechtsverstöße der türkischen Regierung und völkerrechtswidriges Verhalten auch nur zu benennen – damit liegt er auch quer zu Richterkollegen in Hamburg, die zuletzt ausdrücklich die dort ebenfalls von der Verteidigung vorgebrachten Argumente zur Lage in der Türkei anerkannt hatten, (ohne freilich von einer dreijährigen Haftstrafe für einen der Mitgliedschaft in der kurdischen PKK Angeklagten abzusehen).

Selbstentmündigung der Justiz

Stattdessen führte Schreiber für den Senat erneut aus, dass die Beurteilung eines Verfahrenshindernisses nicht ihm obliege, weil die Frage der Verfolgbarkeit nunmal nicht juristisch, sondern auf Grundlage des «öffentlichen Interesses» politisch (d.h. durch den Justizminister in Absprache mit Bundeskanzleramt, Außen- wie Innenministerium) entschieden würde. Zudem habe die eingebrachte Unterstützung der Türkei für den so genannten «Islamischen Staat» keinen Bezug zu den verhandelten Verwürfen gegen Latife. Im Grunde wurde in knappen Worten die Selbstentmündigung der Justiz wiederholt: Der Senat habe zwar einen politischen Auftrag ein Verfahren zu führen, aus politischen Fragen hielte er sich aber raus, weil er nicht kompetent sei. Er hinterfrage auch nicht die zugrundeliegenden politischen Entscheidungen. Darüberhinaus: Er wendet sich nicht einmal an den Auftraggeber und fragt dort nach, ob der Auftrag (noch immer) sinnvoll ist. Zumindest das haben andere Senate in der Vergangenheit getan – zuletzt beispielsweise in Celle: Sie baten den Justizminister, die Verfolgungsermächtigung zu überprüfen.

War die dürre Ablehnungsbegründung für Publikum und vor allem für Latife und ihre Verteidigung schon schwer erträglich, setzte die Generalstaatsanwaltschaft gar noch einen drauf: Geistig offenbar noch im Urlaub, machte sie sich nicht die Mühe, überhaupt eine Stellungnahme zum Einstellungsantrag abzugeben. Das vollständige Schweigen der Generalstaatsanwältin kam einer Missachtung der anwaltlichen Bedenken gegen das Verfahren gleich und es ist gleichsam verblüffend wie beängstigend, dass möglicherweise am Ende eines Verfahrens eine Verurteilung stehen wird, obwohl die Staatsanwälte nach Verfassen der Klageschrift durchweg passiv blieben. Anklage und Plädoyer scheinen für eine Verurteilung Latifes völlig ausreichend, was den fatalen Eindruck verstärkt, dass es keinerlei Beweisführung seitens der Generalstaatsanwaltschaft mehr benötigt, um einen Menschen hinter Gitter zu bringen.

Wie geht es jetzt weiter?

Das Verfahren wird nach der erneuten Zurückweisung des Einstellungsantrages also fortgeführt, nächste Termine sind der 15. September, der eher ein «Brückentermin» sein wird, und der 29. September, für den die Verteidigung umfangreiche Beweisanträge angekündigt hat. Der Umgang des Senats mit diesen Anträgen wird endgültig Einblick in die Struktur des Verfahrens geben: Steht das Urteil von Beginn an ohnehin fest, oder gibt es doch ein echtes Interesse des Gerichtes an Erkenntnis und Aufklärung? Je nachdem, wie seine Antwort ausfällt, wird zum 29.9. (oder kurz danach) auch klar werden, auf welche weitere Verfahrensdauer wir uns einzustellen haben. Bei Zurückweisung der Beweisanträge könnte es auch schnell enden und die Plädoyers könnten bereits im Herbst über die Bühne gehen. Als Unterstützer*innen bereiten wir uns jedenfalls vor: Für Oktober laufen nach der erfolgreichen Veranstaltung in der CityKirche Planungen für weitere Veranstaltungen und Aktionen.