Die Angst des Staates

Montag, 20.7.2015:
Vierter Tag im Prozess gegen Latife

Am Montag, den 20.7. stand erneut eine Videovorführung auf dem Programm. Wie schon am Verhandlungstag zuvor musste das Gericht dazu in den großen Saal 1 des Gebäudes am Kapellweg 36 umziehen – die Videotechnik konnte während der Prozesspause offenbar nicht repariert werden. Saal 1 ist ein überdimensionierter Betonklotz mit einer auffälligen Inszenierung von Rechtsstaatlichkeit: An den Wänden befinden sich unzählige Aktenordner. Die Botschaft, die diese Raumdekoration vermitteln soll, ist klar: Alles hier geht einen ordentlichen bürokratischen Gang. Nichts, was nicht zwischen zwei Aktendeckel passen würde. Nichts, was nicht passend gemacht werden könnte.

Was anscheinend zu beweisen war…

Zu sehen gab es diesmal eine TV-Sendung aus dem Jahr 2010. In einer Talkshow eines migrantischen türkischen Senders war Latife zu Gast. Anlass war die seinerzeit bevorstehende Eröffnung des neuen Vereinslokales der Anatolischen Föderation in der Charlottenstraße auf dem Wuppertal-Elberfelder Ölberg. Zu dieser Eröffnung hatte der migrantische Verein breit eingeladen, etwa 110 Gäste kamen. Bei der Eröffnungsfeier gab es Reden von Vertreter*innen der Partei «Die LINKE», der «MLPD», dem Frauenverband «Courage» und natürlich auch von der Vorsitzenden des Vereins, Latife. Die Gäste sahen einen Sketch einer Jugendgruppe, ein Video zum Thema Rassismus und folkloristische Vorführungen. Das alles wurde gewissenhaft durch die Polizei recherchiert: In den Akten finden sich so «Beweise» dafür, dass es die Anatolische Föderation wirklich gab (angeführter Beweis: Internetseite); dass sich das Lokal in der Charlottenstraße befand (Beweis: Internetseite); dass es eröffnet werden sollte (Beweis: eine öffentliche Einladung); dass Latife Vorsitzende ist (Beweis wieder die Internetseite der Föderation) und schließlich, dass die angekündigte Feier auch stattfand (Beweis: ein Artikel der Zeitschrift «Yürüyüş»).

Die Sendung, die alle Anwesenden fast komplett zu sehen bekamen, und die für die Eröffnung des Vereinslokals werben sollte, zeigte hauptsächlich einen äußerst eitlen, selbstgeschriebene Gedichte vortragenden Moderator, der sich darüber beschwerte, außer Latife keine weiteren Studiogäste vorzufinden, musikalische Darbietungen und doch auch einige Gesprächspassagen zur Anatolischen Föderation. In diesen beschrieb Latife den Sinn und Zweck migrantischer Selbstorganisation. Die Anatolische Föderation sollte künftig bis dahin nebeneinander tätige Vereine und Gruppen unter einem Dach zusammenbringen, um «nicht nur Tee und Kaffee zu trinken», sondern um migrantische Rechte in der Praxis anzuwenden und überall zu verteidigen. Die Anatolische Föderation wollte die Kräfte bündeln. Die Zahl der aktiven Föderations-Mitglieder, die das in Angriff nehmen wollten, wurde von Latife mit etwa 300 beziffert, bundesweit seien jedoch etwa 1.000 Menschen aktiv. Der Vereinsgründung sei insgesamt ein sechsjähriger Prozess des Dialogs mit Migrant*innen vorausgegangen.

Migrantische Selbstorganisation als Fokus

Eine weitere Gesprächsrunde folgt nach weiteren selbstgedichteten Versen des Moderators. Latife wird nach den letzten Aktivitäten der Anatolischen Föderation befragt. Sie erwähnt die damals angelaufene Kampagne der Anatolischen Föderation gegen Rassismus und führt aus, dass es angesichts zunehmender erkannter und unerkannter Gewalt gegen Migrant*innen notwendig sei, einen starken Selbstschutz aufzubauen und sich gegen Rassismus in der deutschen Gesellschaft zu organisieren. Doch auch Repression war 2010 bereits ein Thema: Im Zuge der Kampagne seien drei Freunde wegen ganz normaler Vereinstätigkeit verhaftet worden. Sie hätten Demonstrationen organisiert und die antirassistische Kampagne durchgeführt – migrantische Arbeit würde quasi verboten, während Ermittlungen zu rassistischen Angriffen oft katastrophal verliefen.

Nach weiterem Moderatorengeplänkel, Musik, Werbeeinblendungen und einem Gespräch über die Wichtigkeit der kulturellen Identität, bzw. der Wichtigkeit von Kulturarbeit insgesamt, endet die Sendung schließlich mit einem erneuten Appell Latifes an die migrantischen Zuschauer*innen, sich ihrer Probleme anzunehmen: Am Arbeitsplatz oder in der Erwerbslosigkeit, in der Schule und Zuhause. Sie müssten sich außerdem auf eine Zeit vorbereiten, in der der Rassismus «zu stark» sein wird um ihn zu ignorieren – bereits jetzt [also in 2010] hätten viele Migrant*innen Angst «auf die Straße zu gehen». Nur ein Zusammenschluss antirassistischer Menschen jeder Sprache, jeder Nationalität und jeder religiösen Ausrichtung könne dagegen helfen.

Geht es genau darum?

Die ganze Zeit warten die Beobachter im Gerichtssaal darauf, dass in dem Gespräch etwas zur Sprache käme, aus dem sich im Sinne der Anklage hätte ein Vorwurf konstruieren lassen, schließlich wurde der Mitschnitt von der Generalstaatsanwaltschaft als Beweismittel eingebracht. Sie warteten vergeblich. Vielmehr war das, was im Verlauf der Sendung von Latife geäussert wurde, eine absolute Bestätigung ihrer eigenen Einlassung zum Antrag auf Verfahrenseinstellung. Sie beschrieb ausschließlich eine auf hiesige Aufgaben ausgerichtete Vereinsarbeit der Anatolischen Föderation – nirgends gab es in dem türkischsprachigen Interview auch nur eine Andeutung die sich auf die Politik in der Türkei oder gar auf den militanten Widerstand dort bezogen hätte. Es war nichtmal besonders «politisch» im Sinne von «linksradikal», was Latife auf die Fragen des Moderators antwortete. Es beschränkte sich darauf, für eine starke und selbstbewusste migrantische Selbstorganisation zu werben, die vor allem dem Rassismus in der Gesellschaft etwas entgegenzusetzen hat.

Doch je länger das Gesehene auf den Betrachter einwirkte, umso mehr verflüchtigte sich der Eindruck des gnadenlos Absurden. Die Verständnislosigkeit angesichts eines solchen «Beweismittels» wich nach einiger Zeit der Erkenntnis, dass es tatsächlich eben nicht um militante Aktionen in der Türkei geht, sondern vielleicht genau um das, was Latife im Video mehrfach ausgeführt hatte: Nämlich darum, die im Fernsehgespräch angemahnte «migrantische Selbstorganisation» anzuklagen. In dem von Latife beschriebenen Sinn könnte eine solche starke Selbstorganisation in Deutschland lebender Migrant*innen tatsächlich eine «Rote Linie» eines Staates berühren, der mit wortreichen Konzepten von «Integration» und mit paternalistischem «Verständnis» hantiert, Migrant*innen andererseits aber nie wirklich Teil eines solcherart konstruierten «wir» werden lässt.

Die Angst des Staates vor selbstbewussten Migrant*innen

Viele Bilder gingen dem Beobachter durch den Kopf: Latife in der ersten Reihe der Demo in Solingen, mit der den Opfern des Brandanschlags von 1993 gedacht wurde; der mörderische Brand, dem fünf Menschen zum Opfer fielen; die dem Brand damals folgenden tagelangen Riots meist junger türkischstämmiger Menschen auf Solingens Straßen; die spürbare Angst der Polizei, des Staates und der Politik vor der zornigen Trauer der türkischen Community. Erstmals nach Hoyerswerda, Rostock und Mölln hatten Migrant*innen nach der Eskalation des deutschen Rassismus Anfang der Neunziger ihre Wut auf die Straße getragen, deutsche Antifaschist*innen und türkische Nachbar*innen begannen in den Vierteln zusammenzuarbeiten. Eine Erfahrung, die bei Polizei und Innenpolitik noch lange nachwirkte.

Vor dem inneren Auge tauchten auch unsere eigenen erschrockenen Gesichter wieder auf in die wir geblickt hatten, nachdem wir  – auf dem Höhepunkt der Gezi-Proteste in istanbul und einer neugewonnenen gemeinsamen Aktionsfähigkeit in Wuppertal – von Latifes Verhaftung erfuhren. Eine Aktionsfähigkeit und Solidarität, die von der Verhaftung Latifes dann ganz «zufällig» im Sommers 2013 zerstört wurde. Kann es also sein, dass der damalige Verdacht, die Verhaftungswelle gegen die Vereinsmitglieder der Anatolischen Föderation stünde mit den Solidaritätsaktionen für die Gezi-Proteste in istanbul in Zusammenhang, nicht ganz falsch war? Kann es sein, dass hier einerseits dem türkischen Staat ein Gefallen getan wurde und andererseits eine neu erstarkende migrantische Bewegung, die sich ja nicht nur in Wuppertal fast jede Woche auf der Straße zeigte und in ihrer alte Gräben überwindenden Einigkeit den geschilderten Zielen der Anatolischen Föderation nahe kam, zerschlagen werden sollte?

Kann es sein, dass der deutsche Staat, der zehn Jahre lang mindestens dabei zusieht, wie Naziterroristen Mitmenschen ermorden, die Angehörigen der Opfer jedoch nachträglich aus der Gemeinschaft exkludiert und sogar verdächtigt, Angst davor hat, dass migrantische Communities noch einmal ihren Zorn über rassistische Normalzustände artikulieren und in ein Handeln verwandeln? Wird Latife angeklagt, weil sie eben diese migrantische Selbstorganisation immer wieder eingefordert hat?

Nachtrag – Zeugen rufen bei Gericht an

So komisch das vorgeführte Video an einigen Stellen auch war – nach dem Prozesstag blieb deshalb ein klammes Gefühl. Wenn es dem Staat in Wirklichkeit darum geht, migrantische Politik einzuschüchtern und anzuklagen, stehen uns noch einige schwierige Prozesswochen bevor. Endgültig deprimiert waren wir, als wir beim Verlassen des Gerichtsgebäudes dann auch noch von den neuesten Entwicklungen in der Türkei erfuhren – in Suruç waren wenige Stunden zuvor über dreissig jungen Helfer*innen für das zerstörte Kobani bei einem Selbstmordattentat getötet worden. Der Kontrast zwischen der Anklage gegen unsere Freundin und der mörderischen Realität faschistischer Gewalt war schwer zu bewältigen.

Nachtrag: Der Prozesstag war mit dem Video noch nicht ganz vorbei. Nach der erwarteten Ablehnung des Antrags auf Verfahrenseinstellung vom zweiten Tag des Verfahrens durch den Vorsitzenden Richter Schreiber gab es noch einige Informationen über Ereignisse während der dreiwöchigen Verfahrenspause. Besonders bemerkenswert war dabei, dass die BKA-Zeugen der nächsten Prozesstage bei Gericht angerufen hatten um einmal nachzufragen, wozu sie denn im Verfahren befragt werden sollen. Auch wenn das zur Einholung von Aussagengenehmigungen vielleicht nicht unüblich ist, bleibt dabei ein schlechter Geschmack. Was sind Zeugenaussagen wert, die zuvor mit dem Gericht abgesprochen worden sind?

Großes Interesse – VA-Bericht

Bericht zur Info-Veranstaltung am 14.7.2015

Anti-Repressionarbeit ist immer ein eher undankbares Tätigkeitsfeld. Erfahrungsgemäß halten sich selbst viele Linke lieber davon fern, aus antizipierter Frustration oder auch aus der Furcht heraus, möglicherweise selbst in den Fokus der Ermittler zu geraten, wenn sie sich zu weit in die Nähe einer «wegen Terrorismus» angeklagten Person begeben. Dass sich das Café Stil Bruch am Veranstaltungsabend mit ca. dreißig Leuten recht gut füllte, war daher in gewisser Weise eine positive Überraschung. Was auch daran liegen dürfte, dass Latife auf dem Ölberg (und insgesamt in Wuppertal) einfach eine beliebte und bekannte Person ist. Für ihre Freundinnen und Freunde verbieten sich die einfachen Selbstschutzmechanismen, mit denen staatliche Repression sonst immer gerne als ein Problem «der anderen» konstruiert wird, ohnehin.

§§129: Paragraphen zur Einschüchterung

Die Veranstaltung begann mit einer Einführung zum § 129, der in Deutschland bereits 1871 eingeführt wurde und schon damals – neben den Sozialistengesetzen – eine scharfe Waffe im Klassenkampf von oben war. Der Paragraph wurde während des Kalten Krieges im Zuge des KPD-Verbots und später im «Deutschen Herbst» als Reaktion auf die militanten Aktionen der Stadtguerilla weiter verschärft. Das in den Siebzigern eingeführte Sondergesetz, das sich hinter dem kleinen «a» des §129 a verbirgt, führte den nirgendwo genau definierten Begriff «Terrorismus» in das Strafgesetz ein.

Eine Grundlage für oft willkürliche Ermittlungen, deren Rahmen bewusst uferlos gefasst ist, und vielfach der Einschüchterung und Ausforschung dient: So ist es der Polizei im Rahmen einer einer laufenden 129er-Ermittlung u.a. erlaubt, Telefon- bzw. E-Mail-Überwachungen und Hausdurchsuchungen durchzuführen oder auch Einblick in Kontobewegungen vorzunehmen. Ebenso finden monate­lange Personen- und Wohnungsobervationen statt und Peilsender werden an PKWs angebracht. Dass diese Maßnahmen ganz konkret angewendet werden, wurde im Laufe der Veranstaltung von Latife und ihrem RA Roland Meister bestätigt, als sie von den Überwachungen gegen Latife vor ihrer Festnahme 2013 berichteten. Dabei wurde monatelang jeder ihrer Schritte dokumentiert, zahllose Freunde und Freundinnen wurden gemeinsam mit ihr telefonisch überwacht.

Grundlage für diese Ermittlungen gegen Latife war ein weiteres Sondergesetz des StGB, das als § 129 b bekannt ist. Es wurde nach offizieller Lesart im Gefolge der Anschläge von 9/11 geschaffen – Pläne dazu gab es jedoch schon seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Es erweiterte die Verfolgung Verdächtiger auch auf eine behauptete Mitgliedschaft in (oder Unterstützung von) als „terroristisch“ definierten Organisationen im Ausland. Eine Tätigkeit der benannten Gruppen in Deutschland war mit Einführung des «129 b» keine Veraussetzung mehr für weitreichende Ermittlungen und Anklagen.

Mehrjährige Haftstrafen für politische Arbeit

Welche Gruppen von der «Terrorismus»-Definition erfasst werden, bestimmt eine «Terrorliste» der EU und der USA. Wie politisch interessengeleitet und fragwürdig die Einstufung von Organisationen als «terroristisch» durch den EU-Ministerrat ist, wird z.B. an der Tatsache deutlich, dass das faschistische Bataillon Asow in der Ukraine nicht auf der Liste auftaucht, die gegen die IS-Milizen kämpfende kurdische PKK aber immer noch genannt wird. Das führt bis heute zu Verfahren gegen hier lebende Kurd*innen die oft genug auch mit mehrjährigen Haftstrafen enden.

Dasselbe «Schicksal» ereilt in der Regel Angeklagte, denen eine Mitgliedschaft in der türkischen DHKP-C, bzw. deren Unterstützung vorgeworfen wird. Die Beweisführung für eine Mitgliedschaft bleibt fast immer diffus und selbstreferentiell. Sehr häufig werden vorangegangene Urteile aus anderen Verfahren als «Beweis» eingebracht, oft wird auf Aussagen von in der Türkei Gefolterten bzw. auf fragwürdige Geheimdiensterkenntnisse zurückgegriffen. Dazu passte eine kurze Filmdoku zum ersten 129 b Prozess gegen linke Revolutionäre, der 2009 gegen angebliche DHKP-C-Unterstützer in Stuttgart geführt wurde. Der atmosphärisch dichte Film zeigte eindrücklich, wie bedrückend sich ein solcher «Terrorismus»-Prozess auch im Leben der Freundinnen und Verwandten der Beschuldigten niederschlägt, vor allem, weil die Angeklagten meistens für eine quälend lange Dauer vor und während des Prozesses eingesperrt bleiben – oft genug unter den Bedingungen der Isolation. Die Veranstalter*innen sandten daher auch einen solidarischen Gruß an jene vier Angklagten, die 2013 gemeinsam mit Latife verhaftet wurden und seither im Stammheimer Knast auf ihr Urteil warten müssen, das in Stuttgart für Ende Juli erwartet wird.

Latife, die sich glücklicherweise auf freiem Fuß befindet, berichtete über den Ausgang jenes Stuttgarter «Pilot-Verfahrens», dessen Urteil in späteren Prozessen immer wieder als «Beweismittel» diente – quasi als sich selbst bestätigendes «Perpetuum Mobile»: Die fünf Angeklagten erhielten Haftstrafen zwischen 3 Jahren bis zu 5 Jahren und vier Monaten. Auch damals stützte sich die Anklagebehörde wie im Verfahren gegen Latife, auf die Konstruktion einer „Rückfrontorganisationen im Ausland“, die der DHKP-C finanziell und ideologisch zuarbeitet. Verurteilt wurden die Angeklagten in Stuttgart wohlgemerkt nicht für die Planung von Anschlägen, sondern weil sie etwa Geld gesammelt, Veranstaltungen organisiert und Kontakt zu Genoss*innen gehalten hatten.

Vom Zuschauerraum auf die Anklagebank

Latife erzählte bei der folgenden Gesprächsrunde noch einmal ausführlich von ihrem eigenen persönlichen und politischen Hintergrund. Für sie war die Knast- und Anti-Repressionsarbeit sehr prägend und bedeutsam, mit der sie als Angehörige eines linken Gefangenen noch in der Türkei lebend begonnen hatte und die sie später auch in Deutschland bis zu ihrer eigenen Verhaftung im Juni 2013 fortgesetzt hatte. An vielen Prozesstagen hatte sie in demselben OLG-Saal im Zuschauerraum gesessen, in dem nun das Verfahren gegen sie selbst stattfindet – viele Richter*innen, Staatsanwält*innen und Justizangestellte kennen sie seit Jahren. Sie hat zahllose Kundgebungen vor Knästen organisiert, Briefe an Gefangene geschrieben und Öffentlichkeitsarbeit gemacht. Und sie berichtete gerührt davon, wie viel ihr selbst es in den Wochen ihrer Haftzeit –  z.T. in Isolationshaft sitzend – bedeutet hat, einen ersten Brief von einem Freund in den Händen zu halten, oder zu erfahren, dass ihre Freund*innen eine Kundgebung organisierten.

Für sie als Antifaschistin, Antirassistin und Revolutionärin sei es auch immer wichtig gewesen, sich dort, wo sie lebt – also in Deutschland und in Wuppertal – gegen die schlechten und rassistischen Zustände zu wehren. Für sie war es z.B. selbstverständlich, zusammen mit deutschen und migrantischen Antifaschist*innen gegen Nazis zu protestieren. So organisierte sie z.B. am 29.5. 2013 – vier Wochen vor ihrer Verhaftung – die Solinger Demonstration zum Gedenken an den Anschlag auf das Haus der Familie Genç mit, und beteiligte sich an Wuppertaler Protesten gegen Nazi-Aufmärsche. Außerdem organisierte sie u.a. zusammen mit der Alevitischen Gemeinde im Sommer 2013 mehrere Gezi-Solidaritätsdemos in Wuppertal und der Umgebung. All diese – ganz normalen und öffentlichen – politischen Aktivitäten finden sich nun in der Anklage der Staatsanwaltschaft wieder.

Latife hat aber auch eine ganze Menge gemacht, was öffentlich weniger bekannt war. Zum Beispiel hat sie sich, nachdem sie 2009 zur Vorsitzenden des Vereins Anatolische Föderation gewählt wurde, mit anderen migrantischen Frauen gegen die rassistische Diskriminierung durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft und gegen die Unterdrückung als Frauen durch ihre Männer organisiert. Sie unterstützte migrantische Familien, Frauen und Jugendliche, organisierte Bildungsarbeit und investierte viel Zeit und Energie in kulturelle Aktivitäten. Diese Aufzählung an Aktivitäten müsste eigentlich bereits ausreichen, um die Unterstellung der Generalstaatsanwaltschaft, die Anatolische Föderation sei nichts anderes als eine getarnte Umfeldorganisation der DHKP-C, zu dementieren.

Der NSU-Komplex als Katalysator der Anklage?

Latife hob allerdings noch eine weitere, nicht ganz unwichtige Aktivität der Föderation hervor: Frühzeitig hatte diese nämlich lautstark öffentlich gemacht, was inzwischen als offenes Geheimnis gilt: die Verwicklung staatlicher Behörden, und insbesondere des Verfassungsschutzes, in die Mordserie des NSU. Und das tat der Verein bereits vor der Selbstenttarnung des NSU im November 2011, nachdem die Anatolische Föderation Kontakt zur Familie eines der Mordopfer erhalten hatte. Im Januar 2012 startete die Anatolische Föderation eine Kampagne zu der Mordserie. Sie beteiligte sich an der Bündnisdemo «Verfassungsschutz auflösen» im Dezember des gleichen Jahres in Köln und war zum Prozessauftakt gegen Zschäpe, Wohlleben und Co. mit einer Delegation in München. Es ist sicher nicht an den Haaren herbeigezogen, dass sich manche Person in mancher Sicherheitsbehörde dadurch auf die Füße getreten fühlte. Nun steht also die Vorsitzende eines migrantischen Vereins, der schon sehr früh – lange bevor die meisten Medien aufmerksam wurden – die Komplizenschaft des deutschen Staates mit den Nazi-Terroristen benannte, selber wegen Terrorismusvorwürfen vor Gericht.

Im Anschluss an Latifes Schilderung erläuterte Rechtsanwalt Roland Meister seine Einschätzung des Prozesses. Er kann auf reichliche Erfahrung mit § 129-Verfahren zurückgreifen; Meister hat zahlreiche Verfahren gegen türkische und kurdische Linke als Anwalt begleitet. Er hob nochmals hervor, dass der Paragraph systematisch eingesetzt wird nicht um strafbare Handlungen zu verfolgen, sondern dazu, Gesinnungen und politische Haltungen zu bestrafen. Er merkte an, dass die Staatsanwaltschaft im Prozess gegen Latife aber noch über das übliche Anklagemuster hinausgeht. Denn die Anklage nimmt hier tatsächlich keinerlei Bezug auf irgendeine Verbindung Latifes zur Türkei; sie klagt ausschließlich vollkommen «normale» politische Aktivitäten in Deutschland an, wie die Teilnahme an Veranstaltungen oder die Anmeldung von Demonstrationen.

Abschließend machte Roland Meister noch einmal deutlich, wie deutsche Innenpolitiker und Sicherheitsbehörden in mancher Hinsicht auch über das hinausgehen, was die oft als faschistisch gescholtenen türkischen Behörden bei ihrer Repressionsarbeit tun: So wurde bspw. kürzlich in der Türkei ein Konzert der linksradikalen Musikgruppe Grup Yorum zwar zwischenzeitlich verboten, ein türkisches Gericht kassierte jedoch letzten Endes dieses Verbot. Das Konzert konnte wie geplant vor tausenden Zuhörer*innen stattfinden. In Deutschland wird der Verkauf von Eintrittskarten zu einem Grup Yorum-Konzert hingegen als Beweismittel für die Unterstützung einer terroristischen Verienigung in die laufenden 129b-Verfahren eingebracht. Und die in nach wie vor frei in der Türkei erscheinende Wochenzeitung «Yürüyüş», die ebenfalls als DHKP/C-nah gilt, weil sie erst kürzlich die staatlichen Aussagen zur tödlich verlaufenden Geiselnahme eines Staatsanwaltes anzweifelte, wurde im Mai durch das Bundesinnenministerium verboten.

Weitere Unterstützung erwünscht!

Der Auftritt Latifes bei der Veranstaltung hinterließ bei vielen der Teilnehmenden einen tiefen Eindruck: Entschlossen und gleichzeitig authentisch schilderte sie, wie die Ermittlungen und der Prozess Einfluss auf ihr Leben nehmen und wie sie versucht, sich davon nicht brechen zu lassen. Ihr weiterer Weg durch das Verfahren verdient jede Unterstützung, die wir geben können. Leider fand sich trotz zahlreicher Unterstützungsbekundungen – (die Spendenkasse war am Ende gut gefüllt; vielen Dank dafür!) – bislang noch niemand bereit, sich konkret an der weiteren Prozessbeobachtung in Düsseldorf zu beteiligen. Wer Interesse hat, darf sich gerne an uns – Freundinnen und Freunde von Latife – wenden. Allen, die erstmals zu einem solchen Verfahren wollen, bieten wir an, beim ersten Mal gemeinsam nach Düsseldorf zu fahren. (Kontakt)

Die nächsten Prozesstermine sind am Montag, den 20.7., Donnerstag, den 23.7. und am Donnerstag, den 30.7.2015 am OLG in Düsseldorf (Kapellweg 36).