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Oder: Wie der Verfassungsschutz seine eigene Wirklichkeit erfindet

Donnerstag, 30.07.2015:
Sechster Tag im Prozess gegen Latife

Dieser Prozesstag stand für Latife und ihre Freundinnen und Freunde noch sehr unter dem Schatten des horrendenden Stuttgarter Urteils gegen vier andere Mitglieder der Anatolischen Föderation. Die vier waren zwei Tage zuvor zu Haftstrafen zwischen vier Jahren und neun Monaten bzw. zu sechs Jahren verurteilt worden. Das Urteil verheißt für Latifes Verfahren nichts Gutes, denn auch den vier Angeklagten des Stuttgarter Prozesses, die schon seit zwei Jahren in U-Haft sitzen, wurde nicht viel mehr als der Verkauf von «Grup Yorum»-Konzerttickets «vorgeworfen». Entsprechend war die Stimmung an diesem sechsten Prozesstag vor dem OLG Düsseldorf ein wenig gedrückt.

Nach dem nervenaufreibenden fünften Verhandlungstag zuvor ging überraschenderweise alles wieder seinen ruhigen, deutschen und sehr bürokratischen Gang. Die Wogen hatten sich wieder geglättet, nachdem eine Woche zuvor der Vorsitzende Richter völlig aus der Haut gefahren war und die Anordnung der Abbestellung von Latifes Rechtsanwalt als Möglichkeit in den Saal gestellt hatte. Es konnte aber klargestellt werden, dass Ausgangspunkt des Streits schlicht eine verwirrende und uneindeutige Bezeichnung der so genannten «Strukturakte» war, welche bislang – weil 60.000 Seiten stark – nicht in Papierform vorliegt. Der Richter stellte klar, das seitens des Senats keinerlei Interesse an einer Aussetzung des Verfahrens bestehe und kündigte an, dass im Anschluss an die Prozesspause auf Wunsch von Latife und Rechtsanwalt Meister ein zusätzlicher Strafverteidiger beigeordnet würde.

Die in der Vorwoche verschobene Vernehmung der Zeug*innen des BKA ist nun für den 5.August und für die Folgetermine vorgesehen. An diesem Donnerstag wurden erst einmal nur die Vermerke und Behördenzeugnisse verlesen, und zwar vom Vorsitzenden Richter.

Das ist insgesamt ein wenig kurios im gesamten Verfahren, denn eigentlich redet immer nur der Vorsitzende Richter Schreiber. Von der Staatsanwaltschaft hingegen ist, mit Ausnahme der Verlesung der Anklageschrift, bislang praktisch nichts zu vernehmen gewesen. Die Generalstaatsanwält*innen sitzen immer nur dabei, schweigsamer noch als die Zuhörer*innen, sagen nichts und kommentieren auch nichts, nicht einmal ihre eigenen Beweisanträge. Die einzige Ausnahme vom notorischen Schweigen waren bisher einige ablehnende Äußerungen zu Anträgen der Verteidigung.

So wurden etwa eine Stunde lang die von der Staatsanwaltschaft zusammengetragenen Beweismittel von der Richterbank vorgelesen. Was ein wenig das unangenehme Gefühl verstärkt, dass die Richterbank sich die Anklage der Generalstaatsanwaltschaft ohnehin schon zu eigen gemacht hat. Auch, wenn diese Befürchtung sowieso schon da ist: Die Aufgabenteilung im Gerichtssaal verstärkt das Unbehagen noch.

Behauptung stüzt Behauptung

Als erstes wird ein Verfassungsschutzbericht an die  Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf vom 15.11.2013 verlesen, in welchem vier Fragen der GstA beantwortet werden sollen:

  1. Welche Erkenntnisse liegen dem VS zur «Anatolischen Föderation» vor?
  2. Was sind Latifes Verbindungen zum Verein «Anatolische Föderation»?
  3. Wie ist die Verbindung der «Anatolischen Föderation» zu «Grup Yorum?
  4. In welcher Verbindung steht Latife zu «Grup Yorum»?

Zur ersten Frage führt der Bericht – ohne Nennung der Quellen – aus, dass die DHKP-C für ihre Arbeit im Ausland «Kulturvereine» nutze, um sich «den Anschein der Legalität» zu geben. Diese seien jedoch «Tarnorganisationen» und dienten lediglich der Verschleierung ihrer eigentlichen Ziele, die freilich an keiner Stelle näher ausgeführt werden.

Die «Anatolische Föderation» habe ihren Sitz zunächst in Köln und später in Wuppertal gehabt. Sämtliche weiteren Erkenntnisse beruhten auf der Internetpräsenz von «Anadolu Federasyonu», der (in Deutschland seit Mai 2015 verbotenen) Wochenzeitung «Yürüyüş» sowie der Onlineplattform «Halkin Sesi» (zu deutsch „Stimme des Volkes“).

Zu Latife weiß der Verfassungsschutz zu berichten, dass sie am 20.09.2009 in Köln zur neuen Vorsitzenden des Vereins gewählt wurde. Aus dem später verlesenen Protokoll der Vollversammlung der «Anatolischen Föderation» geht hervor, dass dies in offener Abstimmung mit 40 von 79 Stimmen erfolgte. Zum Zeitpunkt ihrer Wahl war Latifes Amtsvorgängerin, Nurhan Erdem, bereits zusammen mit zwei weiteren Personen in Untersuchungshaft. In den Reden, die bei der Vollversammlung gehalten wurden, sei auf die «Ungerechtigkeit der Inhaftierung» eingegangen worden, und es wurde skandiert «Die revolutionären Gefangenen sind unsere Ehre».

Es folgt dann eine lange Auflistung von verschiedenen Aktivitäten Latifes im Rahmen ihrer Vorstandstätigkeit; zitiert werden mehr oder weniger pathetische Redebeiträge (wobei die Zitatstellen größtenteils auf Veröffentlichungen von «Yürüyüş» oder «Halkın Sesi» verweisen); weiterhin wird geschildert, wann Latife auf welchen Kundgebungen geredet hat und wer noch da war.

Die meisten inkriminierten Aktivitäten beziehen sich auf Gefangenenarbeit; hervorgehoben wird ihre organisatorische Rolle beim «langen Marsch gegen Isolation» in 2010. Außerdem sei ihre Telefonnummer als Kontakt für ein Jugendsommercamp angegeben gewesen. Darüber hinaus sei sie mehrfach bei verschiedenen Veranstaltungen, Festen und sogar Picknicks zusammen mit «Grup Yorum» als Rednerin aufgetreten.

Selbstbestätigende Argumentationsketten

Zu «Grup Yorum» wiederum weiß der Verfassungsschutz genau Bescheid, dass diese Band «ausschließlich im Kontext von DHKP-C-Vereinen auftritt». Als Beleg wird u.a. angeführt, dass bei Konzerten von «Grup Yorum» Spruchbänder mit «Parolen der DHKP-C» zu sehen waren (…um welche Parolen es sich handelte und warum sie als DHKP-C Parolen gelten, kam nicht zur Sprache…). Außerdem haben Medienportale, die lt. VS Sprachrohre der DHKP-C sind, die Konzerte von «Grup Yorum» beworben. Vor allem aber haben in der Vergangenheit Personen, die inzwischen nach §129b verurteilt sind, Konzertsäle angemietet oder bei Konzerten von «Grup Yorum» gesprochen. So wird Kriminalisierung allmählich zu einer Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt.

Die Zuhörer*innen bekommen zunehmend den Eindruck, dass der Berichterstatter des VS sich derartig im eigenen Struktur-Konstrukt («Anatolische Föderation» = Tarnorganisation der DHKP-C, Wochenzeitung «Yürüyüş» = Sprachrohr der DHKP-C, «Grup Yorum» = Propaganda-Musikkapelle der DHKP-C… usw.) verheddert hat, dass er in seinem Bericht eine Differenzierung gar nicht mehr für nötig hält. So bekommt bspw. ein Interview-Statement in einem «Yürüyüş»-Artikel das Gewicht einer Verlautbarung der DHKP-Führung höchstpersönlich, wenn es etwa um die Bewertung von «Grup Yorum» geht, die – wie in dem Interview ausgeführt wird – ein «Teil des revolutionären Kampfes» seien. Es scheint hier parallele Konstruktionen von Wirklichkeiten zu geben, eine redundante und sich selbst bestätigende Interpretation von Verbindungen und Identitäten, die zwar mit Evidenz und Logik wenig zu tun hat und in Teilen wahnhaft scheint – die aber so wirkmächtig ist, dass jetzt die vier in Stuttgart Verurteilten die nächsten Jahre im Knast verbringen werden.

Klarstellungen der Verteidigung

Dankenswerterweise stellt Rechtsanwalt Roland Meister nach dieser Verlesung – die Richter Schreiber übrigens ohne jegliche Gemütsanwandlung abspult, auch wenn er sich dann und wann für seine schlechte Aussprache des Türkischen entschuldigt – einiges klar:

  1. Sei Latife eine scharfe Kritikerin des Bundesamts für Verfassungsschutz; sie habe den VS nicht nur in Hinblick auf Repressionen gegen linke migrantische Strukturen, sondern auch auf die Morde des NSU – die mglw. nur mit Unterstützung oder doch zumindest mit Billigung der VS-Organe hätten geschehen können, öffentlich scharf angegriffen. Und zwar bereits bevor der NSU sich Ende 2011 selbst enttarnte. Dies sei natürlich auch dem Verfassungsschutz bekannt, was wiederum bei der Würdigung des Aktenvermerks berücksichtigt werden müsse.
  2. In dem Aktenvermerk werden Tatsachenfeststellungen in unzulässiger Weise mit Behauptungen und Würdigungen vermischt. Der Vermerk strotze vor unzulässigen Gleichsetzungen, bspw. sei «Halk Cebesi» (zu deutsch «Volksfront») eben nicht identisch mit der DHKP-C.
  3. «Grup Yorum» sei für fast die gesamte türkisch-kurdische Linke, die ja bekanntlich reichlich ausdifferenziert und vielfach gespalten ist, eine wichtige Referenz. In der Türkei spielten «Grup Yorum» vor einer halben Million Menschen, auf Konzerten, die vom Gewerkschaftsdachverband «DISK» organisiert werden, der wohl kaum des «linken Terrorismus» verdächtig sei. «Grup Yorum» sei als Band, ungeachtet der Inhaftierung zahlreicher Mitglieder der Gruppe, in der Türkei genau so «legal» wie die Zeitung «Yürüyüş». Auch das wäre wohl kaum denkbar, wenn es sich tatsächlich um das Sprachrohr der DHKP-C handelte.
  4. In Deutschland sei die «Anatolische Föderation» bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt zudem ein legaler Verein. Wäre sie tatsächlich nur eine Tarnorganisation für eine «ausländische terroristische Vereinigung», so hätte der Bundesinnenminister sie längst verbieten lassen müssen.

Interessant und unterhaltsam ist in der Folge noch die Verlesung des Gründungsprotokolls der «Anatolischen Föderation» sowie der Vollversammlung, in der laut Protokoll per Handzeichen über die Satzung abgestimmt wurde. Zu den Zielen und Aufgaben des Vereins gehört demzufolge die «Stärkung des Bewusstseins für Bürgerrechte und Grundfreiheiten» sowie die «Verteidigung der Bürgerrechte und Grundfreiheiten» und «Öffentlichkeitsarbeit zu Bürgerrechten und Grundfreiheiten».

Soviel Engagement für «Bürgerrechte und Grundfreiheiten» wünschen sich die Prozessbeobachter*innen auf der Richterbank an deutschen Oberlandesgerichten – leider oft vergeblich. Kommenden Donnerstag geht es weiter mit der Befragung von Zeug*innen des BKA. Dann wird es spannend, fußt doch das ganze Verfahren im Grunde darauf, dass das oben geschilderte Konstrukt einer Interessen- und Deckungsgleichheit von DHKP-C und «Anatolischer Föderation» nicht in sich zusammenfällt. Und doch steht dieses Konstrukt auf den tönernen Füßen geheimdienstlicher Erkenntnisse, die sich großenteils auf Informationen des türkischen Inlandsgeheimdienstes MIT und auf Befragungen von Kronzeugen in türkischen Knästen stützen.

Erfreulich ist, dass das Interesse an dem Prozess gerade zu wachsen beginnt und das Publikum beim Verfahren eher wächst als schrumpft.

Der nächste Prozesstermin ist am Donnerstag, 6.August mit Zeugenvernehmung des BKA-Zeugen. Anschließend geht es  nach einer dreiwöchige Prozesspause am Mittwoch, den 26. August und am Donnerstag, den 27.August weiter.

Verhandlungsbeginn am OLG Düsseldorf im Kapellweg 36 ist jeweils 10:30 Uhr
(Bringt 30 Minuten Zeit für die Einlass- und Durchsuchungsprozedur mit!).

Richter ohne Contenance

Donnerstag, 23.7.2015:
Fünfter Tag im Prozess gegen Latife

Die dritte Verhandlungswoche im 129er-Verfahren vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf gegen unsere Gefährtin Latife sollte im Zeichen einer ersten Zeugeneinvernahme am fünften Prozesstag stehen. Am fünften Prozesstag sollte ein BKA-Beamter aussagen und die Verhandlung nach Verlesung der Anklage und der Vorführung von Videos damit in eine neue Phase eintreten. Doch es kam überraschend anders.

Fragwürdige Zeugen und Aussagen

Die Vernehmung der BKA-Beamten ist ein Knackpunkt im Prozess gegen Latife wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereingung. Sie ist auch für den Staat eine heikle Angelegenheit. Handelt es sich bei den zu erwartenden Aussagen doch vor allem um Berichte von BKA-Konsultationen türkischer Sicherheitsdienste wie dem berüchtigten Geheimdienst MIT oder um Vernehmungsprotokolle angeblicher Kader der DHKP-C. Der juristische Wert dieser Aussagen, die für die Konstruktion der von der Generalstaatsanwaltschaft konstruierten «Deckungsgleichheit» zwischen dem militärischen Arm der DHKP in der Türkei und dem deutschlandweit tätigen migrantischen Verein Anatolische Föderation entscheidend sein sollen, muss bezweifelt werden.

In mehreren Prozessen, in denen die auch diesmal wieder zu erwartenden Aussagen der BKA-Polizisten bereits Verwendung fanden, um den Angeklagten eine Unterstützung terroristischer Aktivitäten nachzuweisen, wurde u.a. die Glaubwürdigkeit der in den Aussagen zitierten Zeugen von der Verteidigung stark angezweifelt. Auch die Umstände, unter denen einige der verwendeten Aussagen zustandekamen, halten rechtsstaatlichen Kriterien häufig nicht stand: Einige der herangezogenen Aussagen wurden unter Folter gemacht, andere waren Bestandteil fragwürdiger «Deals» mit türkischen Stellen.

Zuletzt musste ein deutsches Gericht vor der Fragwürdigkeit der Aussagen türkischer Kronzeugen kapitulieren: Nach sieben Jahren, in denen versucht wurde, Faruk Ereren wegen angeblichen Mordes zu verurteilen, kassierte der Bundesgerichtshof das Urteil gegen Faruk Ereren in dem er zunächst eine lebenslange Haftstrafe kassiert hatte. Im Revisionsverfahren wurde die Nichtverwendbarkeit einer zentralen, in der Türkei getätigten Aussage vom Gericht bestätigt; nach sieben Jahren kam Faruk Ereren schließlich frei.

Gebrüll vom Richtertisch

All das weiß natürlich auch das OLG Düsseldorf – schließlich war es sein Urteil gegen Faruk Ereren, das vom BGH kassiert wurde. Vielleicht erklärt das die ungewöhnliche Rüpelei, mit der der Vorsitzende Richter Schreiber im Prozess gegen Latife für eine erste Überraschung sorgte. Waren die bisherigen Prozesstage auf der affektiven Ebene irgendwo zwischen skurril, formalistisch und öde anzusiedeln, so verlief dieser fünfte Prozesstag hochemotional und explosiv – es gab heftiges Gebrüll von Richter Schreiber in Richtung von Latifes Anwalt Roland Meister.

Anlass für den Eklat war ein Streit zwischen RA Meister und dem Gericht über eine so genannte «Strukturakte» – eben jener Akte, in denen die Aussagen türkischer Verbindungsbeamter – bzw. eines MIT- und BND-Agenten – über die Struktur der DHKP/C als Beweismittel in den Prozess eingeführt werden. Nach einem Antrag Meisters auf Aussetzung des Verfahrens, der u.a. auch mit den durch die zu vernehmenden Beamten geführten Telefonaten mit dem Gericht begründet wurde, eskalierte Richter Schreiber für alle Beobachter*innen überraschend die Situation. Im Laufe der Auseinandersetzung verlor Schreiber vollkommen die Contenance und ging in beleidigender Weise auf Latifes Rechtsanwalt los. Das Ganze mündet schließlich in der Androhung, den Anwalt durch das Gericht selbst von seinen Aufgaben als Pflichtverteidiger entbinden zu lassen. Für die Zuschauer*innen war am Ende nicht herauszufinden, worum es eigentlich ging: Fehlten Akten, fehlte Zeit, oder waren Akten vielleicht nur unterschiedlich bezeichnet worden?

Die Androhung, Meister zu entpflichten, ist jedenfalls ein außergewöhnlicher Vorgang. Die Entpflichtung der Verteidigung wird in der Regel vom Gericht abgelehnt – gerade ist die Posse um Beate Zschäpe und ihre Verteidiger ein Lieblingssujet der Presse. Selbst Faustschläge eines Angeklagten gegen einen ungeliebten Verteidiger reichen nicht aus, eine Entpflichtung – und damit einen notwendigen Verfahrensneustart – zu erreichen. Das mussten Ronald Fritzsch, Ralf Reinders und Fritz Teufel 1978 im Lorenz-Drenkmann-Prozess vor dem Berliner Kammergericht erfahren, als sie selbst durch einen Angriff auf ihre ungeliebte Zwnagsverteidigung deren Entpflichtung nicht erreichen konnten.

Was bezweckt das Gericht?

Wenn nun das OLG Düsseldorf selbst eine Entpflichtung Roland Meisters androht, stellen sich den Beobachtern einige Fragen: Was bezweckt das Gericht mit dieser Eskalation? Woraus erklärt sich die bemerkenswerte Nervosität des Gerichts? Welche Motive könnte es ganz entgegen der üblichen Interessen haben, das Verfahren durch eine Entpflichtung Meisters zu kippen und damit neu starten zu müssen? Erhofft sich die Staatsanwaltschaft zu einem späteren Zeitpunkt weitere Beweise gegen Latife, die ihr zur Zeit offenbar nicht vorliegen? Steht der Prozess gegen Latife vielleicht auf sehr tönernen Füßen und will das OLG damit einer Entwicklung zuvorkommen? Hatte RA Meister mit einer sehr politischen Argumentation, in der er u.a. auf die Zusammenarbeit des BND mit dem türkischen Geheimdienst MIT hinwies, einfach einen Nerv getroffen? Oder war es nur ein Versuch des Richters, das gute Verhältnis zwischen Angeklagter und Verteidigung zu stören?

Zunächst einmal führte der Wutausbruch des bis zu diesem Donnerstag eigentlich ruhig agierenden Vorsitzenden Richters dazu, dass der geladene BKA-Zeuge an diesem Tag nicht vernommen wurde. Richter Schreiber selber vertagte seine Vernehmung. Klar ist: Eine Absetzung des Verteidigers gegen den Willen der Angeklagten dürfte juristisch schwierig sein und produzierte zudem mglw. einen gewichtigen Revisionsgrund. Und ein Neustart des Verfahrens würde der Generalstaatsanwaltschaft zwar mehr Zeit geben, nach neuen Beweismittel zu suchen; die Anklageschrift könnte sie jedoch nicht nachbessern. Doch auch ohne eine Entpflichtung Roland Meisters wird es schwer werden, an den nächsten Prozesstagen zu einem normalen Umgang zurückzukehren. Zu heftig war der Angriff des Vorsitzenden Richters auf den Rechtsanwalt, als dass darüber einfach so hinweggesehen werden könnte.

Nerven liegen blank

Das Geschehen am fünften Verhandlungstag bleibt daher etwas dubios. Nach einer zweimaligen Unterbrechung zur Beratung und der schließlichen Vertagung auf die folgende Woche blieb ein – diesmal erfreulich zahlreiches – Prozessbeobachtungsteam irritiert zurück. Sicher ist: Bei der Strafkammer des OLG liegen die Nerven offenbar blank, was für Latifes Verfahren auch ein ganz gutes Zeichen sein könnte. Und nachdem nun scheinbar ein Kampf zwischen Verteidigung und Richter geführt werden wird, scheint die weitere Entwicklung vollkommen offen – weitere Überraschungen sind jederzeit möglich.

Die nächsten Verhandlungstage sind Donnerstag, 30.7. und Donnerstag, 6.8., jeweils um 10:30 Uhr am OLG Düsseldorf (Kapellweg 36). Anschließend ist erneut eine dreiwöchige Prozesspause geplant.